Der verletzte Mensch (German Edition)
andere Dinge, die an den meisten Schulen in Ghettos in den USA mittlerweile Standard sind. Es gibt keine bewaffnete Security und keine Eintrittsschleuse mit Metalldetektoren. Dafür gibt es Gourmetessen in der Cafeteria und Kunstwerke an der Wand, die genauso gut in Museen hängen könnten. Die Teilnehmer am Fotografiekurs erhalten am ersten Tag eine teuere Kamera und können es meist nicht glauben, dass man ihnen etwas so Wertvolles anvertraut. Die besten Jazzkünstler der Welt treten in der Konzerthalle des Zentrums kostenlos auf. Miles Davis war irgendwann in der Stadt, kam vorbei und machte anschließend einige Telefonate mit Kollegen von ihm … Die Jazz-Produktionen mit dem Label „Manchester Craftsmen’s Guild“ haben inzwischen vier Grammys [11] gewonnen. Dass das alles nicht die Marotte eines versponnenen Sozialutopisten, sondern entscheidender Teil einer Erfolgsstrategie ist, zeigen die Ergebnisse. Obwohl die Umgebung zu den Gebieten mit der höchsten Kriminalitätsrate der Stadt zählt, musste in Manchester Bidwell seit der Gründung nie die Polizei gerufen werden. Es gab keine Gewaltdelikte oder Autoeinbrüche am Parkplatz, nicht einmal Graffitis wurden an die Wände gesprayt. Passiert eine wundersame Veränderung ihrer DNA, wenn die Kids die Schwelle des Zentrums überschreiten?
„Wir zeigen unseren Schülern, dass wir ihnen vertrauen, und sie lernen, dass man ihnen vertrauen kann. Wir behandeln sie mit großer Wertschätzung und ernten respektvolles Benehmen dafür. Man kann Menschen nicht beibringen, wie sie mehr aus ihrem Leben machen könnten, wenn sie überhaupt nichts Schönes und Freudvolles in ihrem Leben kennen. Lateinamerikanische und schwarze Kids, die glauben, die ganze Welt ist so grau und fahl wie ihr Ghetto, können hier das erste Mal an einer Orchidee riechen oder erstklassige Jazzmusik hören.“
Das Schlimmste, was dir das Ghetto antut, ist das, was es mit deinem Denken macht
„Die meisten Afroamerikaner, die so aufwachsen wie ich, bauen keine Schulen, sondern nehmen Drogen und kommen ins Gefängnis. Ein Junge aus meiner Nachbarschaft, der bis dahin nie besonders aufgefallen war, ging eines Tages in einen Laden und schoss einem jungen Mitarbeiter in den Kopf. ‚Ich habe gehört, dass er meiner Freundin nachgestellt hat, und so etwas mag ich nicht‘, sagte er teilnahmslos der Polizei, die ihn verhörte. Viele meiner Freunde aus der Schulzeit sind heute so vom Leben gezeichnet, dass sie aussehen, als seien sie 100 Jahre alt. Ich war mir in meiner Kindheit der Verletzungen, die ich hatte, gar nicht bewusst, aber sie waren tief und ernst. Ich wusste nur, dass ich das Leben, das ich um mich herum sah, nicht wollte. Ich habe es meiner Mutter zu verdanken, die mir immer gezeigt hat, dass es auch eine andere, eine bessere Welt gibt.“
„Natürlich kann ich die Dunkelheit und das Leiden in vielen der Kinder in meinem Zentrum besonders gut mitfühlen, weil ich genau dieselben Gefühle hatte. Du bist völlig isoliert und hast keinerlei Kontakt mit der Welt draußen, sondern siehst ständig nur Menschen, die Drogen nehmen, sich gegenseitig Gewalt antun. Ich verstand auch die Frustration, dass man zwar die Fähigkeit zu sprechen hatte, aber einem niemand zuhörte. Diese Kinder haben keine Erwartungen, keine Hoffnungen und schon gar keine Träume. Selbst in ihren Fantasien sehen sie sich nicht als Helden, sondern als Überlebende.“ – „Sie leben also von Tag zu Tag“, sage ich. „Nein“, unterbricht mit Bill, „sie leben von Stunde zu Stunde.“
„Wir sind die kleine Pille, die den Krebs der Seele heilen kann“
Diese Kinder bringen einander für einen 80-Dollar-Sportschuh um. Sie haben überhaupt kein Gefühl für den Wert eines Menschenlebens. Sie wissen aber, welchen Statuswert die neuesten Sportschuhe in ihrer Welt haben. In ihrem Verständnis sind Sportschuhe und das Leben dasselbe. Es fehlt ihnen sogar die Sprache, um Begriffe wie Wertschätzung überhaupt ausdrücken zu können. „Unsere wichtigste Aufgabe hier im Zentrum ist, den Jugendlichen dabei zu helfen, eine neue Wahrnehmung der Realität zu entwickeln. Wir zeigen ihnen, dass sie wertvolle Menschen sind, die in sich die Fähigkeit haben, gute Dinge tun zu können.“ Und irgendwann erleben sie dann, dass sie auch Wertschätzung von anderen dafür erhalten. „Es ist für diese Jugendlichen der erste und entscheidende Schritt, wenn sie das erste Mal hören: ‚Ich finde deine Ideen gut‘ oder ‚Großartig,
Weitere Kostenlose Bücher