Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
oder zur Seite zu springen. Aber sie nahmen das Gehechte und Gehüpfe gern in Kauf – in den zahllosen Nischenund zwischen den Spalten des Daches trafen sie auf manche unternehmungslustige Maus, und alleine dafür lohnte es sich.
Amafilia Fokklin als geborene Tauber war in eben diesem Haus zur Welt gekommen. Auch Finn hatte hier das Licht Kringerdes erblickt – nirgendwo wussten Vahits besser über die Schwierigkeiten der tauberschen Geburtsumstände Bescheid als hier im Stammhaus; und so hatte auch Furgo, als Amafilias Niederkunft nahte, den Weg nach Aareinheim genommen.
Finn hatte sich schon oft gefragt, ob die Taubers ihren Bei- und Familiennamen einstmals aus dem nahe liegenden Grunde bekommen hatten – denn wie in einem Taubenschlag ging es tatsächlich bei seinen mütterlichen Verwandten zu. Ständig strömte es – flatterte es , wie Furgo es oft nannte – bei ihnen ein und aus. Ganze Scharen von Gästen, zumeist Verwandte aus den anderen Gauen, kamen regelmäßig und häufig zu Besuch, und unüberschaubar war zu allen Zeiten die Zahl der Kinder und Kindeskinder, die nicht nur das Tauberhaus selbst, sondern überhaupt Aarienheims versteckte Winkel unsicher machten.
Zahllose einander ähnliche Gesichter begegnen einem allenthalben, wenn man bei den Taubers zu Gast ist , lästerten auswärtige Zungen. Das war zweifellos übertrieben, aber zahlreich war die Familie schon immer gewesen, und ein wenig sonderbar (tuschelten noch bösere Gemüter) war sie obendrein.
Das mochte stimmen oder auch nicht, die Vermehrungsfreudigkeit der Taubers war indes landesweit bekannt und stand in merkwürdigem Gegensatz zu den Schwierigkeiten, die sich bei vielen Frauen anlässlich ihrer mannigfaltigen Geburten einstellten. Nicht wenige Kinder (und Mütter) starben bei der Niederkunft oder im Kindbett; und am schwersten, so hieß es, hatten es die Erstgebärenden, denn allzu lange Wehen und verzögernde Umstände sorgten stets für bange Tage des Hoffens und Harrens.
Amafilia, hatte Finn viel später munkeln gehört, wäre bei seiner Geburt fast gestorben. Furgo seinerseits verlor niemals wieder ein Wort über diese leidvollen Tage im September des Jahres 682. Der Monat verging und es wurde Oktober, ehe Amafilia das Wochenbett verlassen und mit Mann und Kind den Heimweg nach Moorreet antreten konnte. Tauberfrauen gebaren schwer; und man hätte meinen sollen, dieser Umstand hätte die Anzahl der Kinder verringern sollen – das genaue Gegenteil war indes der Fall. Die meisten weiblichen Familienangehörigen schienen offenbar entschlossen zu sein, den Makel durch möglichst viele Geburten ausgleichen zu wollen. Amafilia mit nur einem Sohn stellte eine bemerkenswerte (und immer wieder bemerkte) Ausnahme von dieser Regel dar.
Finn besaß daher allein unter den Aarienheimer Taubers mehr Vettern und Kusinen, als er auswendig aufzuzählen vermocht hätte. Einige, zumeist ältere, traf er nur zu seltenen Gelegenheiten, andere, zumeist gleichaltrige, kannte er ein wenig besser und mochte sie tatsächlich ganz gern, obwohl sie Familie waren. Allen voran war da Wilhag Tauber zu nennen, der jüngste Sohn Ewerdargs, des nächstälteren Bruders seiner Mutter.
Amafilia war das mittlere von sieben Geschwistern: drei ältere Brüder und drei jüngere Schwestern. Deren jüngste hieß Fionwen, und ihretwegen war sie nach Aarienheim gerufen worden. Denn Fionwen hatte, wie Finn aus dem Eilbrief wusste, vor einer Woche unmittelbar vor der Niederkunft ihres ersten Kindes gestanden, und groß war darum die Sorge aller Anverwandten gewesen.
Die erwähnte Eigenart der Taubers, so es denn eine war, bezog sich vor allem auf Amafilias Großvater Bartolo, der in seiner Jugend angeblich (und nach eigenem Bekunden) eines Tages – und völlig allein – den Alten Weg hinabgestiegen war. Er wollte sogar bis zu den sumpfigen Ufern des Tarduil vorgedrungen sein, auf der Suche nach Kräutern für seine Gemahlin Tessina.
Ob Bartolos Geschichte nun auf Wahrheit beruhte oder nicht, ließ sich nicht mehr ermitteln, denn fragen konnte man ihn nichtmehr. Aber seit Bartolos Rückkehr sprachen die Taubers mehr über die Tiefenlande als zuvor. Sie ergingen sich in allerlei Vermutungen und gewagten Vorstellungen darüber, was andernorts, jenseits der Grenze des Hüggellandes, wohl an Merkwürdigkeiten und Begebenheiten zu finden sein mochte. Vielleicht war das eine erklärbare Folge ihres Wohnsitzes. An klaren Tagen konnte man nämlich vom
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