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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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unwahrscheinlich, wie Mellow und Finn wussten: Der Wolf hätte zunächst den Alten Weg heraufkommen und hernach die vielen Meilen unbemerkt durch den Obergau ziehen müssen. Er hätte sich seine Schafe auch schon in Lammspring reißen können und nicht erst hier, fünfzehn Meilen südlich; aber gänzlich auszuschließen war es nicht, dass ein Wolf sich hierher verirrte. Vielleicht riecht er das Blut, das neuerdings hierzulande vergossen wird, dachte Finn bekümmert; und ohne es zu wollen, fiel ihm das Blut an der Tassel seiner Mutter wieder ein.
    Mellow riet den Halberwegern, die Schafe in die Ställe und Häuser zu schaffen, sobald es Abend werde; und des Tags sollten die Herden nie unbeaufsichtigt bleiben. Zwei ältere Jäger, bestimmte er, sollten sich diese Aufgabe teilen, obwohl Mellow deren Bögen nur ungern nicht mit nach Mechellinde gehen sah.
    Die Frauen des Dorfes, vor allem die Mütter, wollten die abrückenden Freiwilligen nicht ziehen lassen; doch Mellow beschwichtigte die einen und unterwies in aller Eile die anderen. Er versprach den Dörflern Hilfe von der nächstgelegenen Landhüterey. Dann drängte er zum Aufbruch. Zur gleichen Zeit, nacheiner Rast von einer Stunde, setzten sich beide Gruppen in Bewegung: die einen, drei Erwachsene und vier Grünspechte, nach Westen, die vier Gefährten nach Osten, gen Aarienheim.
    Das Land senkte sich unmerklich, die Hügel vor ihren Augen bekamen flachere Kuppen und weit geschwungenere Hänge. Das leichte Gefälle erlaubte den Ponys trotz des anstrengenden gestrigen Tages einen munteren Schritt. Etwa eine Stunde nach Mittag erreichten sie die weißschimmernde Klimt, ein Fluss von nicht ganz der Breite der Räuschel und vor allem ohne deren Kälte. Hier legten sie eine kurze Rast ein und ließen die Tiere trinken, ehe sie die steinige Furt vorsichtig durchquerten. Die Klimt war nicht tief, aber sie floss rasch, und ihr Untergrund bestand aus rutschigen, murmelnden Kieseln, deren Geklacker sie deutlich hören konnten, während sie darüber hinwegritten.
    Die Klimt bildete in diesem Teil des Hüggellandes die Gaugrenze; sie befanden sich nach ihrem Wechsel auf deren rechte Seite damit im nordöstlichen Zipfel des Tiefengaus. Sie ritten jetzt schon nahe des Sturzes, nur wenig mehr als eine Meile von seiner Kante entfernt. Die Straße machte bei der Furt eine scharfe Kurve nach rechts und führte vom südlichen Ufer aus im schrägen Winkel näher an den gewaltigen Abbruch heran. Zweimal sahen sie zu ihrer Linken mächtige Adler kreisen, und vielmals hörten sie ihren durchdringenden Schrei. Aber die großen Vögel schwebten weit draußen: zu Paaren oder einzeln im Wind. Sie zogen langsam den Sturz entlang, oder sie glitten schraubend tiefer und verschwanden ganz plötzlich aus ihrem Blickfeld, um unterhalb der Kante ihre in der Felswand versteckten Horste aufzusuchen.
    Die Sonne stand mittlerweile im Südwesten, als sie mit einem Mal Kaminrauch rochen; dann sahen sie kaum mehr als zwei oder drei Meilen, nachdem sie die Klimtfurt hinter sich gelassen hatten, die Dächer und die lange Hecke von Aarienheim vor sich liegen. Sie waren an ihrem vorläufigen Ziel angelangt.
    Finn dachte mit einigem Unbehagen daran, was sein Vaterwohl sagen würde, sobald er seiner ansichtig wurde. Wähnte er seinen Sohn doch in der Tintnerey, um dort ellenlange Listen zu pflegen. Und sein Herz klopfte plötzlich voller Bangen, als er unwillkürlich die Tassel in seiner Tasche berührte. Der schrille Jagdruf eines jäh über ihre Häupter hinwegstoßenden Aars versetzte ihm einen beträchtlichen Schrecken; er fuhr aus seinen Grübeleien auf und sah dem Schatten hinterher. Nur kurze Zeit darauf sahen sie ihn mit einem geschlagenen Hasen aus der Wiese auffliegen.
    Nirgendwo entlang der Linvahogath, der »Langen Mauer« des Sturzes, gab es so viele Adlerhorste neben- und übereinander wie in den senkrechten Spalten und Schründen unterhalb Aarienheims. Schon immer hatten Adlerpaare sich gerade diesen Ort zum Nisten ausgesucht. Den Grund dafür hatten die Vahits nie herausgefunden; doch der Fels unter Aarienheim schien sie wie mit einem geheimnisvollen Zauber anzuziehen oder daran zu binden.
    Jeden Morgen sahen die Aarienheimer die Eren wieder aufsteigen: Die mächtigen Schwingen ausgebreitet und die Lüfte kühn durchschneidend, glitten sie scheinbar schwere- und mühelos an der Felswand entlang, und sie jagten tief unten in den Schattenfennen, in die hinab ihre scharfen Augen spähten; und ihre

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