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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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Jagdgründe erstreckten sich, weit über die Insel Langschelf hinaus, dem großen Strom Tarduil folgend, bis jenseits der Schleierfälle des Tairandos. Selbst weißköpfige Seeadler horsteten zuweilen hier, im Schutz der Linvahogath; denn für ihre raschen Flügel nah war Bhera endh Eren, die jenseits des südlichen Krümmung des Halbmondgebirges gelegene Bucht der Adler, in die der Tarduil mündete.
    Das Brada Aarienheim bestand aus neun Häusern und zwei altertümlichen Brochs, die sich jeweils wie Schulterbuckel beim Ein- und Ausgang des Dorfes erhoben. Dazwischen fanden sich rundeund winkelige Häuser verteilt, ohne einer erkennbaren Ordnung zu folgen, sondern mehr oder weniger nah der Straße gelegen: fünf an ihrer rechten, und vier an ihrer linken Seite, der drohenden Kante des Sturzes zugewandt. Hinter diesen östlichen Bauten erstreckten sich kaum zwanzig oder dreißig Schritte breite Wiesen und Gärten. Danach fielen die Klippen jäh und lotrecht ab.
    Mehr als eine Meile tief war der Abgrund auch an dieser Stelle, und nur wenige Schwindelfreie hielten es aus, an seiner Kante zu stehen und ruhigen Blutes hinabzuschauen, ohne dabei zu schwanken.
    Die Vorfahren der heutigen Vahits errichteten schon bald nach ihrer lang zurückliegenden Ankunft im Hüggelland entlang des Abgrunds eine brusthohe Absperrung, den sogenannten Sturzzaun, der seitdem sorgsam in Stand gehalten wurde. Er sollte Vieh wie Vahit gleichermaßen davon abhalten, sich versehentlich kopfüber hinunterzustürzen. Eine Aufgabe, die er größtenteils erfüllte, obwohl Unfälle selten, aber immer wieder vorkamen. Eine der vorrangigen Pflichten der Landhüter des Tiefengaus war es daher, diesen Zaun regelmäßig abzugehen, seine Haltbarkeit zu prüfen und beschädigte Abschnitte unverzüglich zu melden. Allerdings gab es diesen Zaun durchgehend nur auf dem südlichen Abschnitt des Sturzes, von Aarienheim bis zu den Winterweiden. Im Obergau war das Gelände nahe der Sturzkante dagegen faltig und unwegsam; es wurde einfach gemieden und weitläufig umgangen, sodass es keines warnenden Zaunes bedurfte.
    Vom nördlich stehenden Broch aus verlief eine dichte Hecke. Sie führte an der West- oder Landseite des Dorfes entlang und endete erst an den Aarienheimer Feldern, die in einem Waldstück unterhalb des Klippbachberges den Blicken verborgen lagen.
    Die klobige Mauer des Brochs war auch das erste Gebäude Aarienheims, das die Ankommenden hinter dem buntgefärbten Heckenlaub erblickten.
    Das grobe Rund seiner grauen Feldsteinmauer ragte hinter den Sträuchern und selbst über einigen davorstehenden Bäumen auf;mehr Wehrturm als Haus schien er zu sein: von der gleichen altertümlichen Bauweise geprägt wie der Furtlerbroch in Räuschelfurt.
    Der letzte Eigentümer war schon einige Jahre vor Finns Geburt daraus ausgezogen. Seitdem wohnte niemand mehr dauerhaft darin. Die Aarienheimer nutzten den Broch als ein der Gemeinschaft zur Verfügung stehendes Gästehaus, denn es gab kein eigenes Gasthaus im Ort. Da das Grundstück der Familie Tauber direkt daran grenzte, war es Brauch und Sitte geworden, dass sie sich der Gäste annahmen und sie gegen Entgelt mit Bett, Speis’ und Trank versorgten. Dafür kümmerten sich die Taubers um den Erhalt des Brochs, so gut es ihnen nebenbei möglich war.
    Sie selbst bewohnten ein wahres Ungetüm von einem Haus, das im ganzen Hüggelland seinesgleichen suchte, von der Hel und den Büchereyen einmal abgesehen. Einst war es ein einfaches Haus gewesen, dessen Ständerfachwerk kundige Hände nach überkommener Weise errichtet hatten. Seitdem hatte man es immer wieder vergrößern müssen. Neu hinzugezogene oder neugeborene (und nur allzuschnell heranwachsende) Familienmitglieder hatten mal diesen, mal jenen Anbau notwendig gemacht. Inzwischen war das Gebäude mehr lang als breit gediehen und war sogar stückweise in die Höhe gewachsen. Die Leute sagten zwar Langhaus dazu, obwohl Stapelhaus es vielleicht besser getroffen hätte.
    Zahllose Erker und Einschübe, Vorsprünge und Überbauten schoben sich wild vor-, in- und übereinander. Ein ganzer Wald von kurzen, kleinen, langen und dicklichen Kaminschloten wucherte auf dem Dach oder genauer den Dächern , denn eine gemeinsame Firsthöhe besaß das Haus längst nicht mehr. Die Dorfkatzen, die im Mondlicht über die gesamte Dachlänge spazierten, hatten damit ihre liebe Mühe: Ununterbrochen zwangen die Lücken, Absätze und Kanten sie dazu, beständig irgendwo hinauf-, hinab-

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