Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
lag vor ihnen nahe an einer senkrecht aufragenden Felswand auf dem Rücken. Wie ein vom Baum gefallener Käfer, dachte Finn.
Ein totes Pony streckte die Hufe von sich. Der Bauch des schwarzweiß gescheckten Leibes war vollständig aufgeschlitzt. Tiere hatten daran gerissen und die ursprüngliche Wunde vergrößert. Eine große Fläche des Bodens darunter war dunkel von eingesickertem Blut. Trotz des Windes vermeinte Finn den unverkennbaren Geruch des Todes zu atmen. Der Hals des Ponyswar gebrochen; vielleicht war es aus vollem Lauf gegen den quer zum Weg stehenden Felsen geprallt. Von Bauch und Kopf stiegen Fliegen mit grünschillernden Flügeln in dichten Schwärmen auf.
Um die Unglücksstelle herum standen Gasakan Amsler und drei seiner Landhüter; Geldo saß indes auf einem flachen Felsstück, das Sitz und Tisch zugleich für ihn war; er hatte ein Buch auf den Knien liegen und kämpfte einen aussichtslosen Kampf mit den beständig im Wind flatternden Blättern. Ein Tintenfässchen und eine Feder in seiner Hand vervollständigten seinen Aufzug. Er tunkte emsig die Federspitze ein und schrieb auf, was Gasakan ihm vorsagte.
»… entziehen sich einer Erklärung«, hörten sie ihn sagen, während sie abstiegen. »Kommen wir zu Punkt vierzehn: Vermutete Täterschaft. Hast du’s? Schön.«
Sein Kopf ruckte herum, als er die neuerliche Gegenwart der beiden Vahits und des Menschen bemerkte. Er hob abwehrend die Hand und machte eine verneinende Geste mit dem Zeigefinger. »Nichts da! Reitet weiter! Ihr habt hier nichts zu suchen! Hier gibt’s nichts zu sehen! Das ist ein Fall für die hiesige Landhüterey. Ihr habt hier nichts verloren!«
»Oh doch, das habe ich!« Finn fauchte es beinahe.
Er drückte den Gauvogt beiseite und ging auf den umgekippten Wagen zu. Inku blieb dicht bei ihm; der strenge Geruch des verwesenden Ponys verstörte den Welpen und erfüllte ihn mit einer unbekannten Scheu. So tapste er an Finns Beine gedrückt neben seinem Herrn her. Finn bückte sich und strich über die Bepolsterung.
»Ja«, sagte er. »Das hier ist meine Angelegenheit. Jedenfalls mehr als die deine! Dieser Wagen gehört meiner Familie. Ebenso das Pony. Es hieß Panuffel. Diese beiden zumindest habe ich hier verloren, Herr Gasakan. Von meiner Mutter ganz zu schweigen. Oder ihrem Gepäck. Wo sind ihre Koffer, ihre Hüte, ihre Kleider, ihre ganzen Sachen?«
»Woher soll ich das denn wissen?«, entfuhr es dem Gauvogt.
»Sie wurden eingesammelt«, warf Geldo ein. Er blickte von seinem Buch auf. »Ich nehme an, als man Furgo fand. Gleich nachdem, meine ich. Trotz seines verletzten Beins hatte er sich bis zur Straße zurückgeschleppt, und dort fand ihn Bardogar Tauber. Er schlug im Dorf Alarm; dann eilte er zu Furgo zurück und blieb bei ihm, bis Hilfe kam.«
»Wer hat dir befohlen, hier herumzuquasseln? Hast du nichts zu schreiben? Zeig das her!« Gasakan riss dem Verdutzten das Buch von den Knien.
Finn trat einen Schritt vor. »Lass ihn gefälligst ausreden, Gasakan. Oder ich bitte meinen Freund hier, sein Schwert abermals zu ziehen. Und ich warne dich! Meine Geduld mit der hiesigen Obrigkeit ist nahezu erschöpft, falls du mich verstehst. Geh beiseite und halte deinen Mund, es sei denn, du hast etwas zur Aufklärung beizutragen. Verstanden?«
Etwas in Finns Augen riet dem Gauvogt wohl, den Bogen nicht zu überspannen. Er trat wie verlangt zur Seite, warf wütend das Buch ins Gras und lugte hernach unter den Wagen, als fessele etwas Bestimmtes dort ganz und gar seine Aufmerksamkeit.
»Wie gesagt, Bardogar holte Hilfe«, fuhr Geldo unaufgefordert fort. »Die ersten, die mitkamen, trugen Furgo ins Dorf. Die anderen gingen mit Bardogar, denn sie hatten von Furgo erfahren, hier zwischen den Felsen läge noch Amafilia. Sie ist tot , soll er immer wieder geweint haben. Aber sie war es nicht.«
Geldo lächelte betrübt. »Sie war schwer am Kopf verletzt, aber das war nicht das Schlimmste. Weit gefährlicher war der Hieb eines Schnabels, den ihr der Adler beigebracht hat. Von da bis da«, sagte er und zeigte, was er meinte. Seine Hand strich vom Hals über die Schulter bis zur rechten Körperseite. »Sie lag ohnmächtig unter dem Wagen und blutete stark. Sie trugen sie gleichfalls ins Dorf zurück – mit all ihren Sachen, die du vermisstest. Bis auf diesen Regenschirm da.« Er zeigte auf ein zerknicktes und zerfleddertes Ding, das neben dem Wagen lag und das Finn erst jetzt als die traurigen Überreste von Mamas Reiseschirm
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