Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
wehgetan.«
»Es geht schon. Und gut, dass ich euch gleich finde«, sagte sie, hörbar atemlos. Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit. Fionwen hielt Finn am Arm zurück, als dieser tiefer den Flur entlang wollte.
»Verzeih – wir haben’s wirklich eilig, wir suchen …«
»Und ich suche euch«, fiel ihm Fionwen ins Wort. » Bitte – bleibt einen Augenblick, wenn ihr könnt.«
»Ja? Was ist denn geschehen?« Wilhag hob die Lampe auf. Glücklicherweise war sie nicht zerbrochen. Er entzündete sie neu. Als das Licht aufflammte, blickten sie in ein aufgelöstes Gesicht, in dem erst kürzlich Tränen geflossen waren.
»Es ist … ich kann es nicht genau sagen. Nur, dass ich plötzlich Angst verspüre. Ich weiß nicht recht. Schwager Furgo ist so seltsam heute Morgen. Er … er hält den kleinen Finnig im Arm … wiegt ihn immerzu … und gibt ihn nicht wieder her. Er gibt mir mein Kind nicht mehr zurück! Das hat er noch nie getan, verstehst du? Er … er redet nur noch davon, er wolle heim mit seinem Sohn. Zurück nach Moorreet. Mit … bei allen Waldgeistern, mit mir und unserem Kind, wie er sagt. Ich fürchte, er ist mehr denn je davon überzeugt, er hielte statt Finnig dich im Arm. In seinem Geist ist er gerade wieder erst Vater geworden, so viel glaube ich seinem absonderlichen Gerede entnehmen zu können. Er nimmt fest an, dies sei jener Herbst vor 28 Jahren. Er scheint zu denken, du seist gerade erst geboren worden, Finn! Er glaubt, er hält dich in seinem Arm! Ich meine: Für ihn ist es das Jahr 682, nicht 710. Mich hat er schon zweimal Liebste Amie genannt! Vorhin wollte er mich gar küssen …«
»Bei Aman!«, entfuhr es Finn. » Das hat uns gerade noch gefehlt!«
Wilhag wechselte einen vielsagenden Blick mit seinem Vetter. Er spreizte erst den Daumen, dann den Zeigefinger ab und murmelte: »Damit sind’s schon zwei Verwirrte an einem Morgen. Drei, wenn wir Smod mit dazurechnen.«
Fionwen verstand nichts von alledem. »Finns Freund, der Herr Mellow«, erklärte Wilhag. Er drehte seinen Finger wie eine Schraube vor der Schläfe. »Ist vollkommen weggetreten.«
Finns Gedanken rasten. »Wo ist Circendil? Ist er wenigstens bei Papa?«
»Nein. Er sah vorhin nach ihm, ging dann aber, um etwas zu holen.«
Finn unterdrückte ein Schimpfwort. »Wann war das?«
»Vor einer Viertelstunde? Nicht viel mehr. Kaum verließ der Dir den Raum, verlangte Schwager Furgo seinen Kuss von mir …«
Finn biss sich auf die Unterlippe.
»Was jetzt?«, fragte Wilhag besorgt.
»Ich … ich werde gleich mit Papa reden. Ist er ruhig oder aufbrausend? Ich meine, behandelt er den kleinen Finnig gut?«
»Liebevoll – eben wie seinen eigenen Sohn.« Finns jüngste Muhme schluchzte auf bei diesen Worten und verbarg ihr Gesicht in der Schürze.
»Dann gedulde dich bitte noch ein wenig, Fionwen. Auch wenn es schwer zu verstehen ist – Mellow braucht im Augenblick dringendere Hilfe. Wir müssen ihn schnellstens von diesem Gemmenstein trennen. Ehe er damit größeres Unheil anrichtet. Oder vielmehr der Stein mit ihm.«
»Von was für einem Stein sprichst du denn?«, fragte Fionwen hilflos.
»Von einem, der den Geist verwirrt«, erklärte Wilhag. »Wir vermuten, dass der dicke Landhüter dieses Ding zuvor besaß. Das würde erklären, warum er herumschlich und mit Kieseln warf und was nicht alles. Er muss es verloren haben, und Herr Mellow hat es aufgehoben. Es ist ein böser Stein, wenn ihr mich fragt.«
»Ja«, antwortete Finn tonlos. »Einer, der die Sinne betört. Eine Sinyanhwe, wenn mich nicht alles täuscht!«
Ein lautes Poltern erschütterte plötzlich den Flur, gefolgt von einem Plumps und einem schmerzerfüllten Stöhnen. »Amie! Amie?! «
In das Rufen mischte sich das verängstigte Schreien eines Säuglings.
Ihre Köpfe fuhren herum. Finn stockte der Atem.
»Das kam aus Furgo Zimmer!«, rief Wilhag, zutiefst erschrocken.
»Das ist mein Sohn!«, schrie Fionwen gleichzeitig, mit jäh überkippender Stimme.
Alle drei stürmten den Gang entlang, zu einer rechtsliegenden Kammer im hinteren Teil des Flures. Fionwen erreichte die Schwelle trotz ihres Kleides eher als die beiden Vettern. Sie riss das Türblatt auf. Ein hellerer Lichtkeil fiel in den Flur.
Im Spiel des in der Zugluft aufflackernden Kaminfeuers verzerrte sich Fionwens entsetztes Gesicht. Als Finn und Wilhag heranwaren, beugte sich die junge Frau schon über ihr Kind, das in seiner Windel am Boden zappelte und
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