Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
kurz und freudig, doch auch er vermochte Smod nicht aufzuheitern.
Sie riefen Oheim Bardogar zu, die Tiere zum sofortigen Aufbruch auf den Hof zu führen. Dann eilten sie den Weg entlang, der nördlich vom Taubergrundstück zum Beukel führte. Inku sprang voraus, als habe er eine Spur aufgenommen von einem Wild, das es zu jagen galt.
»Eines verstehe ich nicht«, sagte Wilhag, als sie etwa auf halber Strecke zur Steigbrücke waren. »Wie kann ein Stein, und sei er edel und geschliffen, Macht haben über einen Vahit?«
»Einst war es eine Kunst der Dwarge, Wil. Sie verstanden es, Gilwen zu schmieden. Und Karbeole wie diesen hier am Heft meines Schwertes. Sie entdeckten das Geheimnis, solchen Steinen eine Hinwendung zu geben, eine Art Auftrag, oder eine Macht. Vielleicht wohnt auch den Sinyanhwen eine Hinwendung inne. Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, aber ich vermute es.«
»Wenn der Wille dieses Saisárasars in diesem Ding steckt, ist dann nur der betroffen, der das Ding in Händen trägt, oder auch solche, die in seiner Nähe sind?«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Finn.
»Mir kommt da noch so ein Gedanke. Erinnere dich – wir wissen, Herr Mellow war kurz in seiner Kammer im Broch. Er hatte sich auf’s Bett gesetzt …«
»Und?«
»Aber er blieb nicht lange, nicht wahr? Die Mauern engten ihnein. Er verließ den Broch, voller Unruhe, getrieben vom Wunsch der Sinyanhwe, zurückgegeben zu werden. Aber er war nicht der für sie bestimmte Träger. Das war Bholobhorg. Herr Mellow wurde zwar von der Unruhe erfasst, aber er befand sich noch nicht völlig unter ihrem Bann. Was siehst du, wenn du aus dem Broch trittst?«
»Wenn ich … warte … na, euer Haus mit seiner der Straße zugewandten Seite. Meinst du das?«
»Was genau steht vor dem Haus, dem Eingang des Brochs genau gegenüber?«
»Ah, du meinst die Sitzbank. Und weiter?«
»Na, ich stelle mir vor, wie Herr Mellow dort nächtens herumgeistert. Er wird nicht die ganze Nacht herumgelaufen sein. Womöglich hat er sich auf der Bank niedergelassen und den Sternen was von zurückgeben zugeflüstert. Wichtiger aber ist: Was befindet sich oberhalb der Bank, unmittelbar darüber?«
»Das Fenster der Kammer meines Vaters!«, entfuhr es Finn.
»Genau. Und wer war heute, neben Herrn Mellow, der zweite Verwirrte dieses Morgens?«
»Das hieße, die Sinyanhwe hat den Anfall meines Vaters bewirkt?«
»Bewirkt, ausgelöst … etwas in der Art, ja.«
»Bei Aman!«, verfiel Finn unwillkürlich wieder in den Ausruf des Medhirs. »Wenn du Recht hast damit, sind die Steine noch gefährlicher, als wir dachten!«
Inku blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und lauschte.
Wilhag packte Finn am Arm und zog ihn ruckartig hinter einen Brombeerbusch. »Sei still! Aufgepasst – da vorn!«
Für einen kurzen Moment sahen sie einen roten Fleck im Braun der herbstlichen Sträucher tanzen.
»Das war ein Landhüterhut«, flüsterte Finn. »Das ist er. Wir hatten Recht.«
»Lass ihn das ja nicht hören«, flüsterte Wilhag zurück. »Es ist ein Vogthut, den er da trägt.«
»Den Stein wird das nicht kümmern, fürchte ich.«
»Was jetzt? Ihm folgen oder Herrn Circendil holen?«
»Ich lasse ihn nicht mehr aus den Augen.«
»Also ihm nach.«
Sie liefen geduckt weiter. Von diesem Augenblick an blieben sie in der Deckung von Büschen und Bäumen und kamen dem Hut dabei nach kurzer Zeit dennoch so nahe, dass sie Mellow zweifelsfrei darunter erkannten. Er bog langsamen Schritts in den von der Gaustraße abzweigenden und zu dem ihren querverlaufenden Weg ein. Als sie selbst die Abbiegung erreichten, sahen sie ihn die Steigbrücke betreten: zögerlich, als gäbe es Gründe, eben dies nicht zu tun, die im Widerstreit mit solchen lagen, die ihn dazu drängten voranzuschreiten. Er hielt etwas in seiner Hand, als er auf der obersten Stufe stehenblieb und zum Beukel hinüberstarrte. Sein Gesicht war bleich.
»Wir müssen ihn dort herunterholen«, sagte Wilhag leise.
»Auf jeden Fall müssen wir ihn von dem Stein trennen«, gab Finn ebenso leise zurück.
»Er wird sich wehren.«
»Ich weiß.« Finn seufzte und holte tief Luft. »Ich weiß.« Einen Augenblick später sagte er: »Vielleicht lässt er ja jetzt mit sich reden.«
Wilhags Miene verriet, wie wenig er daran glaubte.
Sie gaben ihre Deckung auf, die bis zur Verzweigung des Baches ohnehin dürftig war und immer dürftiger wurde. Langsam gingen sie auf die Steigbrücke zu.
Mellow verhielt weiterhin
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