Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
hatte den Anschein; denn er stand auf der untersten Stufe und achtete ihrer nicht mehr. Beide Hände hielt er wie eine Schale vor seinem Gesicht, und in dieser Schale lag der gelbe Stein, schimmernd und feucht, und Finn sah Tränen über Mellows Gesicht laufen, während er die Hände zum Himmel streckte. Als böte Mellow die Sinyanhwe einer unsichtbaren Menge dar, reckte er sie gleichsam empor.
Und während Finn entsetzt zu ihm schaute und sah, wie der Stein aufflammte, als ob in ihm ein Feuer entbrenne, durchfuhr ihn eine Ahnung von Tod und Verderben. Kaum mehr erkannte er seinen Freund in der zitternden Gestalt mit der Sinyanhwe in ihren Händen; und in diesem Augenblick, da ihr Schimmern wie ein stechendes Licht war in seinem Geist, da meinte er ein rasch anschwellendes Flügelschlagen zu hören.
Jähe Adlerschreie zerrissen den morgendlichen Himmel. Dann kamen sie, zu zweit, zu fünft, zu zehnt hinter-, neben- und übereinander: an die zwanzig, vielleicht auch mehr Eren schrien zugleich und schossen über die Kante des Sturzes und rechts wie links des Beukels nach Westen. Dies war kein Jagen, auch kein hoheitsvolles Gleiten, kein würdevolles Schweben – nein, dies war eine einzige angsterfüllte Flucht, erkannte Finn. Und sie erfolgte nicht nur hier am Beukelfelsen: Soweit er blicken konnte, verließen längs der gesamten Linvahogath die Eren ihre Horste und flohen gellend ins Innere des Hüggellandes. Er wandte den Kopf, sah von Nord nach Süd und erkannte allenthalben nahe und ferne Schatten, Punkte nur, die auf und davon flohen, so geschwind ihre Flügel sie nur trugen.
Im Nu war auch der letzte der hiesigen Eren hinter den westlichen Baumkronen außer Sicht. Finn fragte sich unwillkürlich, ob seine Sinne ihm einen Streich gespielt hatten und er die Flucht der Adler nur geträumt hatte; womöglich lag er noch besinnungslos am Fuß der Steigbrücke, ein Opfer von Mellows unerwartetem Angriff.
Unwillkürlich sah er zu Mellow hin, der den Eren ebenfalls immer noch nachblickte, als hätten sie eine trügerische Hoffnung in ihm geweckt, die nun schmerzhaft unerfüllt blieb.
Er war auf die Knie gesunken. Die um die Sinyanhwe gekrümmten Hände hielt er jetzt wie bittend, wie flehend erhoben – er bot ein Bild des Jammers. Plötzlich horchte er auf. Dann, als wäre er von einer unsichtbaren Bogensehne abgeschossen, sprang Mellow auf und lief an den beiden Vahits vorbei, den fliehenden Adlern hinterher, den Weg zurück, den alle drei hinaufgekommen waren. Sein Mantel wehte hinter ihm. Das blutbeschmierte Wacala ließ er unbeachtet zurück.
Finn rappelte sich auf.
Er kroch das Ufer hinab zu Wilhag und sah, dass dieser wirklich nur bewusstlos war. Mit einer Hand schöpfte er Wasser aus dem Bach und besprenkelte damit das Gesicht seines Vetters. Mit der anderen betastete er sein Ohr und zuckte zusammen. Das Läppchen war halb entzwei geschnitten; die untere Hälfte hing klaffend herab. Seine Hand war blutig, als er sie betrachtete. Dafür ist jetzt keine Zeit, dachte er und vergaß sein Ohrläppchen ganz, als Wilhag sich prustend und spuckend regte.
»Was ist …?« Wilhag verzog das Gesicht und presste beide Hände auf seinen Magen.
»Keine Zeit für Erklärungen. Mellow ist geflohen. Er hat den Stein immer noch. Wir müssen ihm nach. Kannst du laufen?«
»Ich versuch’s.«
Finn erhob sich und streckte die Hand aus. »Dann komm.« Wie aus nebliger, weiter Ferne hallte Mellows Stimme in ihm nach: Versuch niemals etwas. Tu es oder lass es.
Finn nickte grimmig. Er zog Wilhag auf die Beine. Er drückte seinem Vetter das Wacala in die Hand. »Hier, nimm du es. Besser du hast es als er, meine ich, in seinem augenblicklichen Zustand. Und nun los. Komm, Inku!«
Einen Atemzug später rannten sie, Seite an Seite, bachaufwärts und fort von der Brücke. Mellow war nicht mehr zu sehen.
Fionwen fuhr zusammen, als der fremde, große Mensch Furgos Kammer betrat. Der kleine Finnig in ihrem Arm spürte ihr Erschrecken und begann zu greinen. Circendil lächelte und ging in die Knie, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem der jungen Vahitfrau war. Er blickte dem wenige Tage alten Kind in die blauen Augen und hob langsam eine Hand, als schöpfe er Wasser aus einem unsichtbaren Quell. Sofort hörte das Greinen auf, und Finnig strahlte das fremde Antlitz an.
»Wie .. wie hast du das gemacht?«
Der Medhir lächelte verschmitzt. »Oh, es ist nur ein kleines Geheimnis, welches Aman uns Davena einst verriet,
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