Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
kaum der Rede wert, Nande Fionwen. Doch sein Schrecken ist vorüber, wie ich sehe; und ich bin nicht seinetwegen gekommen, wie du dir denken kannst. Wie geht es Furgo?«
»Er ist gestürzt, als er zu gehen versuchte. Das …« Circendil unterbrach die junge Mutter sanft. »Ich weiß. Ich meinte – wie geht es ihm jetzt?«
»Ich glaube, er ist in seinem Stuhl eingeschlafen; seitdem Wil und Finn ihn dorthin setzten, hat er sich nicht mehr gerührt. Oder gesprochen.«
»Dann wollen wir die Gunst des Augenblicks nutzen. Seine Beinschiene hat sich gelockert; ich will sehen, was ich daran richten kann.«
Circendil hob den ausgewachsenen Vahit mit einer Leichtigkeit hoch, als handele es sich bei Furgo um ein Kind. Er legte den Tintner behutsam auf das Bett, und beide konnten sehen, wie Furgo sich im Schlaf entspannte. Fionwen verstand nicht genau, was der Fremde mit seinen wrisilrhiobhaften Händen eigentlich machte. Dennoch arbeitete er geschickt und schnell und ohne dass Furgo darüber erwachte.
»Bitte sag es all denen, die fürderhin mit Furgos Pflege beschäftigt sind – die Bindetücher müssen jeden Tag neu verzurrt werden, sie lockern sich, so fest wir sie auch binden. Hier, nehmt diesen Stilabschnitt als Knebel, siehst du – so.« Der Dir zeigte, was er meinte, und Fionwen verstand, um welche Kraftübertragung es dabei ging und wie der beschließende Knoten zu schlingen sei.
»Das ist es«, meinte der Mönch, indem er sich aufrichtete, »mehr kann ich nicht tun. Habt hier im Tauberhaus in den folgenden Wochen Geduld mit ihm; es wird wahrhaft Wochen um Wochen dauern, bis er stehen und am Ende allein wieder gehen kann. Und lasst ihn niemals ohne Hilfe laufen oder überhaupt über längere Zeit ohne Aufsicht. Sollte er wieder stürzen, ist er hilfloser als ein Kind.«
Er beugte sich abermals nieder und strich Finnig über den dunklen Haarflaum. »Und dir, mein lieber junger Vahit, schenke ich den Segen Davens!« Er zeichnete das λ über dem Kopf des Kindes. »Mögen Amans Augen über dein Wohlergehen wachen!«
Und an die Vahitfrau gewandt, fügte er hinzu: »Sei ihm eine gute Mutter, Fionwen. Meide den freien Himmel, wenn du kannst. Die Gefahr ist vielleicht näher, als wir alle glauben. Und nun sage ich Lebewohl. Ich habe leider nicht die Zeit, einem jedem in diesem freundlichen Hause zu danken. Bitte richte allen meine Grüße aus. Und sage Hámlat, dass man im fernen Vindland der Taubers und ihrer Taten gedenken wird!«
»Aber … wird Schwager Furgo weiterhin denken, dies sei sein Sohn, und ich … ich sei seine Frau Amafilia?«
»Darum sorge dich nicht, Nande Fionwen. Des Herrn Furgos Geist war verwirrt. Von außen, nehme ich an; und wenn ich alles richtig verstehe. Es war der Wille eines bösen Steins, Verwirrung und Unfrieden zu stiften, und bei Furgo ist ihm dies mit Ersterem gelungen, weil der Wunsch Furgos nach Heilung ihn in eine Zeit zurückversetzte, in der es ihm gut ging. Der Unfriede aber ist auf Mellow gesprungen, und ihm zu helfen, ist nun meine vordringliche Aufgabe. Lebewohl!«
Damit schritt er aus der Kammer. Noch während die Tür zumFlur hin offenstand, noch während sich der Vindliandir zum letzten Mal zu ihr umwandte und ihr zum Abschied ein aufmunterndes Kopfnicken schenkte, hörten beide lautes Rufen von draußen und Tumult vor dem Haus. Die schwere Haustür flog auf. Jemand schrie: »Die Eren – so seht doch! Die Eren fliehen!«
Circendils Kopf fuhr herum. »Bleib im Haus!«, rief er mit tödlichem Ernst. Der Mönch aus Daven packte im Laufen seinen zerschlissenen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und stürmte ins Freie.
Finn und Wilhag rannten, so schnell sie nur konnten; doch schon bald kam Inku nicht mehr nach und blieb zurück; Finn hielt an und nahm ihn wieder auf seinen Arm.
Als sie den zum Tauberhaus abzweigenden Weg erreichten, waren sie unschlüssig, ob Mellow diesen oder den weiter geradeaus führenden Pfad genommen hatte.
»Lass uns zum Haus zurückkehren«, meinte Finn nach kurzem Überlegen. »Dieser Weg geradeaus führt zur Gaustraße. Mit den Ponys holen wir ihn schneller ein, falls er dorthin läuft. Fast wünsche ich es mir, dass er fort ist. Fort vom Tauberhaus, meine ich. Mein Herz sagt mir, ihm wird das Böse folgen, solange er die Sinyanhwe bei sich hat.«
»Eilt euch, ihr Vahits!«, brüllte die tiefe Stimme des Menschen über das weite Gehöft. »Wenn etwas die Adler ängstigt, so ist es auch für euch Vahits
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