Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Sonne im Osten wie ein Wallen, eine Wolke aus Bewegung, wogend wie Wellen in einem See; und schnell näher kommend. Zuerst dachte sie an weitere fliehende Adler. Doch diese Vögel waren um vieles größer als Eren. Und es waren unzählige, zumindest mehr, als sie so schnell zählen konnte: Fünfzig mochten es gewisslich sein, oder auch siebzig oder mehr. Sie schwebten und flogen hinter- und übereinander, in gestaffelten Reihen und dicht an dicht, ihre Flügelspitzen berührten sich fast. Auf den breiten dunkelbraunen Rücken hockten grässliche Gestalten mit schuppigen Hauergesichtern. Fionwen sah blanke Waffen, von Fäusten geschüttelt, deren Spitzen die Sonne aufblitzen ließen wie Sterne an einem schwankenden Himmel.
Alles dies wurde Fionwen in der Dauer eines einzigen Atemzugs gewahr.
Dann entfror das Bild wieder: Schrille Raubvogelrufe ließen die Luft erzittern; angstvolle Schreie von Vahits ertönen, die alles fallen ließen, was sie gerade in Händen hielten, und die unwillkürlich in die unterschiedlichsten Richtungen zu laufen begannen; über allem erscholl die befehlende Stimme des grüngewandeten Menschen. Circendil stand unweit der Scheune, den Blick den nahenden Vögeln zugewandt, und trieb die ihn umringenden Vahits an, zu fliehen und sich zu verbergen, so schnell sie nur konnten. Sein langes Schwert hatte er gezogen, und er sah bedrohlich aus: ein Krieger wie aus alter Zeit, mannhaft, wehrhaft und voll grenzenlosen Mutes, so ragte er über den erschrockenen Köpfen der Vahits auf. Und doch war sein Mut vergeblich, seine Drohung in Wahrheit lachhaft – niemals vermochte ein einzelner Mann diesem Ansturm standzuhalten, der auf des Sturmes Schwingen nunmehr über die Kante des Sturzes flutete.
Die Criargs kamen, bezogen auf die Wiese vor dem Tauberhaus, fast zu ebener Erde herangeflogen. Dicht über den Zaun hinweg glitten ihre mächtigen Krallen; und ihre hauergesichtigen Reiter sprangen aus den Sätteln, kaum dass sie sicheren Boden unter ihren Füßen erblickten. Einer, drei, fünf, sieben und immer weitere schwangen sich vor den teils wie angewurzelt dastehenden Vahits von den Vogelrücken. Misstönende Laute drangen an Fionwens Ohr, die sie zunächst für eine Art Kriegsgebrüll hielt, ehe sie begriff, dass sich die Gidrogs in ihrer abgehackten, grunzenden Sprache verständigten.
Circendil stürzte dem ersten entgegen, der auf Aarienheims Erde Fuß fasste. Sein Schwert wirbelte funkelnd und färbte sich rot; der Medhir sprang über den toten Leib hinweg; ein knappes Klirren aufeinanderprallender Klingen, dann flogen zwei weitere Köpfe auf Blutfontänen davon.
Fionwens Herz drohte auszusetzen, als einer der Gidrogs ihrer kleinen Gruppe gewahr wurde. Mitten im Lauf warf er sich herum und stieß einen Schwall grässlicher Laute hervor. Dabei schien er selbst zu fliegen, so rasend schnell näherte er sich der Tür, an der sie immer noch verharrten. Doch ehe er Furgo in seinem Stuhl erreichte, brach der Gidrog sich überschlagend zusammen; in seinem Rücken steckte ein Axtschwert, das Circendil aufgenommen und geschleudert hatte.
»In den Broch! Los!«, hörte sie ihn rufen, während er gleichzeitig zwei ihn anspringende Feinde abwehrte. Einen Augenblick darauf schlug er einem anfliegenden Criarg die vorgestreckten Fänge ab. Das verwundete Tier stürzte zu Boden und begrub seinen Reiter unter sich.
»Lauf!« schrie Furgo, drehte sich in seinem Stuhl halb herum und gab Fionwen einen Stoß. »Verschwinde! Ab ins Haus! Und durch eines der Fenster in den Broch! Rette Finnig!« Im Sitzen schwang er seine Krücke und schmetterte sie auf den Kopf eines der herrenlosen Vogelwesen, das mit jagdlüsternen Augen und stampfenden Beinen auf ihn zugerannt kam.
Fionwen zögerte; sie wollte Furgo nicht seinem Schicksal überlassen; dann gewann der Gedanke an ihr Kind die Oberhand. Sie taumelte wie im Fieber zurück ins Tauberhaus, raffte ihren Rocksaum zusammen und eilte, Finnig an sich gepresst, in das Halbdunkel des Flurs hinein.
Einen Criarg gab es, der ein Gutteil über den anderen flog, zwei ineinander verschränkte Kreise am Himmel zeichnend. Sein Reiter war in einen schwarzen Mantel gehüllt, der ihn bauschend umgab, als sei er selbst ein Schwingenpaar. Die dunkle Kapuze lag offen auf den Schultern; das ausgebrannte rechte Auge war dem Reiter genommen worden; die leere Höhle war umgeben von schwärendem, entzündetem, dunkelrotem Fleisch; das linke Auge glitzerte dafür um so erbarmungsloser und
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