Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Hand aus Mellows linker Jackentasche. Doch inmitten der Bewegung geriet ihm sein Schrei zu einem Keuchen. Die Sinyanhwe war heiß; sie schien, von einem inneren Feuer angefacht, zu kochen, und beinahe hätte er sie fallen gelassen. Ein Glimmen wogte in ihren Facetten hin und her, wie der Atem eines eingeschlossenen Wesens. Inku sah es und duckte sich eng an den Boden. Mit seinen Hundesinnen erkannte er auf eigene Art, dass seinem Herrn Gefahr drohte.
»Und was jetzt, Finn?«, fragte Wilhag, der den wild zappelnden Mellow immer noch an die Erde drückte. »Was ist, wenn das Ding jetzt deine Sinne betört?«
»Du hast Recht – daran hatte ich gar nicht gedacht.« Finn betrachtete die Sinyanhwe mit Abscheu. Die Hitze, die von ihr ausging, war keine, die den Körper versengte, aber sie tat dennoch binnen weniger Herzschläge weh. Unschlüssig betrachtete er das Ding, das ihm jetzt wie ein im Fluss erstarrter Feuertropfen vorkam. Er wechselte es von einer Hand in die andere und fragte sich, wie Mellow die Hitze hatte ertragen können. Erst da bemerkte er, dass Mellows Handinnenflächen gerötet waren und an einigen Stellen Blasen aufwiesen.
»Gib ihn mir!«, kreischte Mellow auf, als er den Stein in Finns Händen wandern sah. Sein Hut war ihm während des Gerangels vom Kopf gerutscht und lag nun, halb zerknüllt, im Dreck des Weges. Die blauen Bänder waren mit halbgetrocknetem Matsch beschmiert. Wieder bellte Inku laut auf.
»Und wo du schon grübelst«, drängte Wilhag. »Sag schnell – was bitte soll ich mit Herrn Mellow anstellen?«
Finn begriff, er war an diesem Morgen entschieden zu viel gerannt – und hatte zu wenig nachgedacht. Bis eben hatten seine Gedanken nur um den Wunsch gekreist, Mellow irgendwie zu erwischen und ihm den üblen Stein zu entwenden. Doch zu seinem Erschrecken hatte er keinen Plan dafür, was er tun sollte, falls ihm beides gelänge. Und nun war es ihm gelungen.
Was jetzt? Es war völlig richtig, was Wilhag eben erkannt hatte – keiner von ihnen hatte bedacht, dass der Einfluss des Steins Macht über jeden errang, der ihn trug; und nun hielt Finn ihn selbst in Händen, und er bekam unwillkürlich Angst davor, seinen eigenen Verstand zu verlieren. Oder zum Verräter an seinen Freunden zu werden. Ein ohnmächtiger Sklave eines fremden Willens zu sein dünkte ihm schrecklicher als alles, was er bisher erlebt hatte.
Komm zu einem Entschluss! , ermahnte er sich selbst.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber alles, was er eben noch für richtig erachtete, erschien ihm im nächsten Moment als ebenso töricht. Er wünschte sich Circendil herbei. Der Davenamedhir würde Rat wissen …
»Finn?« Wilhag warf seinem Vetter einen hilflosen Blick zu und passte nicht auf.
»Gib … ihn mir! Er muss … zurück …« Mellow bekam eine Hand frei und presste sie mit aller Kraft, die seine unbändige Wut ihm verlieh, in Wilhags Gesicht. Dessen Hals bog sich sofort gefährlich nach hinten.
Wilhags Kräfte begannen immer mehr zu schwinden.
Der unter ihm tobende Helvogt schrie, nein, kreischte abermals auf: vor Wut, vor Schmerz, vor Etwas, das sich allem Verständnis entzog. Er würgte, spuckte und zeterte. Was Mellow unternehmen würde, sobald Wilhag ihn nicht mehr halten konnte, war unschwer vorherzusagen – die blutunterlaufenen Augen seines sonst so besonnenen Freundes glichen denen eines zu allem entschlossenen, in die Enge getriebenen Tieres. Blasiger Speichel trat aus seinen Mundwinkeln und lief ihm in dünnen Fäden über die Wangen. Der Rudenforster Vahit war eindeutig nicht länger Herr seiner Sinne. Kaum freigegeben, würde er aufspringen und sich blindwütig auf einen jeden stürzen, der den Stein besaß.
Aber noch während Finns Blick fahrig zwischen der Sinyanhwe und Mellow hin und her zuckte, und sein seltsam gelähmter Verstand hämmernd zu einem Entschluss zu kommen suchte, nahm ein anderer ihm jede Entscheidung ab. Wilhag schrie mit überschnappender Stimme erneut Finns Namen, doch die Warnung ereilte zu spät.
Inku fiepte erschrockener auf denn je. Er verschwand im nahen Gebüsch.
Als Fionwen Furgos rollenden Stuhl über die Schwelle der Tür des Tauberhauses schob, erstarrten alle drei, als habe ein übernatürlicher Frost sie einfrieren lassen: sie selbst, Finnig in ihrem Arm und Furgo, dessen Schimpfen mitten im Satz abbrach. Das Knarren des Stuhls erstarb.
Ihre Augen wollten kaum erfassen, was sie dennoch sahen: Ein Schatten hing vor der
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