Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
»Du erwähntest diesen Namen vorhin schon einmal: Meróin , aber einmal nanntest du ihn Eichenpfahl, dann wieder Dunkelhelm. Ist er derjenige … ich meine, er kann doch unmöglich so alt sein, oder?«
Glimfáin lachte hustend.
»Nein, ganz gewiss nicht. Der damalige Meróin erhielt erst viel später den Beinamen Dunkelhelm, weil er Nárbláin stahl; der Name Meróin hingegen ist häufig in meiner Sippe vertreten, und Eichenpfahl ist der zwölfte dieses Namens, und bisher trägt er ihn in Würde.«
Alle hatten Glimfáins Erzählung gebannt verfolgt, von seiner Sprechweise und der blitzenden Axt, die er in den Händen hin und her drehte, während er redete, gleichermaßen gefesselt. Fast ein jeder wollte Nemandáur daraufhin aus der Nähe betrachten. Abhro und seine Gesellen verschränkten die Arme ungläubig vor der Brust, als sie erfuhren, worauf sie starrten: auf eine Waffe, die vor über dreitausend Jahren geschmiedet worden war. Dennoch, so erkannten sie staunend, waren Blatt und Stiel gänzlich unversehrt, als sei noch keine volle Stunde vergangen, da Irváin die Axtvom Amboss genommen hatte. Mellows Brüder wollten aufgeregt wissen, wo die beiden erwähnten Schwerter verblieben waren und welche Bewandtnis es überhaupt mit der Hinwendung habe. Der Dwarg winkte müde ab und vertröstete sie auf ein anderes Mal. Circendil erhob sich und gab den Vahit-Schmieden ein gerüttelt Maß an Anweisungen. Mellow ging nach draußen.
Tallia und Finn fanden sich plötzlich unbeachtet und allein hinter einem hohen Strohhaufen wieder, während Glimfáin die Vorzüge dwargischer Schmiedearbeiten pries, und sie umarmten einander stumm und inniglich. Beide ahnten, dass bis zu ihrem Wiedersehen leicht viele Tage, wenn nicht gar Wochen vergehen konnten, und sie fanden keine Worte in ihrem Schmerz darüber. Stattdessen drückten sie nur immer wieder ihre glühenden Wagen aneinander; und beide weinten, ohne dass sie es bemerkten.
Plötzlich legte sich das aufgeregte Stimmengewirr.
Mellow verursachte einigen Lärm und riss das Scheunentor bis zum Anschlag auf – das unverkennbare Zeichen des bevorstehenden Aufbruchs. Finn und Tallia kamen eilig hinter dem Stroh hervor und gesellten sich zu den anderen.
Eines der Schmiedeponys wurde vor den Einspänner geschirrt, während alle Abreisenden sich von Glimfáin verabschiedeten. Finn machte den Abschluss und wünschte dem Windschmied gute Besserung; er hoffte, rechtzeitig zurück zu sein, um die Galim mit eigenen Augen schweben zu sehen.
»Behüte Maúrgin, und sie wird dich behüten! Vergiss das nie, mein kleiner Vahatir! Lebe einstweilen wohl!«
Finn versprach es, verneigte sich und folgte den anderen hinaus.
Abhro und Tallia saßen schon auf dem Einspänner; der alte Vahit ergriff soeben die Zügel. Die Rohrsangbrüder stiegen auf ihre Ponys. Circendil hockte mit seinen zu langen Beinen auf Gwaeths Rücken. Finn kletterte irgendwie in Smods Sattel, steif vom langen Sitzen und den vorausgegangenen Beschwernissen.Mellow gab mit einem schrillen Pfiff das Zeichen. Mit Rattern und mit Hufgeklapper setzte sich der Tross in Bewegung, und Franan und Giran winkten ihnen nach, bis der Waldweg alle verschluckt hatte.
Über ihrer Zusammenkunft war die Sonne weit in den Nachmittag hineingewandert. Sie blinzelte schon schräg von Westen her durch die Zweige. Finn, der hinterdrein ritt, drehte sich noch einmal um, als er einen letzten Blick zwischen hängenden Weiden auf die Wasser der Mürmel erhaschen konnte; und er fragte sich, ob es wohl klug war, die wertvolle Gilwe unter dem fragwürdigen Schutz zweier Einfaltspinsel, die nicht einmal etwas von ihrem Vorhandensein ahnten, und eines schwerverletzten Dwargen zurückzulassen. Circendil indes schien es für richtig zu halten; der Medhir erwähnte die Gilwe weiterhin mit keinem Wort.
Ergeben zuckte Finn mit den Schultern.
»Einmal mehr haben wir scheint’s keine Wahl«, murmelte er, drehte Smod herum, ließ ihm die Zügel schießen und galoppierte den anderen hinterdrein.
Ob es nun Leichtsinn war oder nicht, oder ob Aman die Einfältigen in besonderer Weise behütete – es erfolgte wundersamerweise bis zu Tallias und Abhros Rückkehr kein Schaden aus ihrem Tun, nicht an diesem und auch nicht am nächsten Tag.
Aber es sollte eine geraume Zeit vergehen, bis Finn seinerseits davon erfuhr.
Auf den letzten Meilen vor Mechellinde grummelte es von fern über dem Sturz. Der Wind schlief ein. Auf den Stoppelfeldern waren keine
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