Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
mit einer doppelten Axt wieder, die sich in zwei einzelne Äxte teilen ließ. Du wirst es bereits ahnen: Nemandáur nannte er die eine, und Téorandáur hieß er die andere. In beiden Namen findest du, nicht unerwartet, die Rufsilben der Zerstrittenen wieder. So war beiden Ehre erwiesen, und Téorlins Zorn verblasste.
Einem jeden der beiden Zerstrittenen händigte er eine der Waffen aus und rief: Nur gemeinsam schließen, nur gemeinsam öffnen sie! So, wie die Schlüssel Seite an Seite gehören, so gehört ein Freund an die Seite des anderen! Möge beides für alle Zeiten einander verbunden bleiben!
So sprach er, und er erhielt freudigen Beifall, und aller Zwist ward darob vergessen; und in die eine wie die andere Torhälfte legte er eine kostbare Schrift aus blauem Sildirum: TÉOR und NEM steht seitdem dort geschrieben, und es ist immer noch lesbar für jene, die den Weg dorthin finden, obwohl jetzt keine Gidwargim mehr in Téorlins Hallen ein- und ausgehen, denn Vazarenia ist seit Langem verlassen und dunkel.
Aber ach! auch dies ist Nemgláins Werk. Lange Jahre verstrichen in Frieden, und der Zwist ward wahrlich vergessen. Dann aber, in seinen alten Tagen, schmiedete Nemgláin Narbláin und Tyrfing , denn er wollte es seinem Sohn gleichtun und schmiedete Schwesterklingen. Mit diesen beiden Schwertern aber säte er böses Blut. Die Waffen erlitten einen Makel, hervorgerufen durch falschen Stolz und durch eine in hohem Alter nachlassende Kunstfertigkeit gleichermaßen. Narbláin erweckte falsche Begehrlichkeiten in jedem, der die Klinge sah, woraufhin Meróin sie stahl; und er bekam den Namen Dunkelhelm. Témoin indes erhielt Tyrfing ausgehändigt, zusammen mit dem Auftrag, Meróin zu verfolgen und zu stellen. Er tat es und nahm Meróin Narbláin wieder ab; den Dieb führte er gefangen vor Téorlin. So begann das Zweite Große Zerwürfnis zwischen dem inzwischen alten Téorlin und dem nicht minder bejahrten Nemgláin. Téorlin wollte Meróin Dunkelhelm hart bestrafen, und Nemgláin bat um Milde. Schließlich hatte er Narbláin eben diese Hinwendung gegeben; und als nunmehr Téorlins Sohn Témóin vermitteln wollte, erlitt dieser den Tod durch Tyrfings Tücke. Denn dies war Tyrfings Hinwendung: zu töten, wann immer es gezogen wurde. Dies hatte Nemgláin bisher niemandem verraten, auch dem tapferen Témoin nicht. Als Témoin es in seines Vaters Halle zog, um es zusammen mit Narbláin an Nemgláin zurückzugeben, wandte sich das Schwert gegen ihn, da er gegen niemand anderen vorging. Témoin durchbohrte sich selbst damit und starb zu Füßen seines Vaters. Großes Wehklagen setzte ein; alle von Khambrins Geschlecht flohen mit Nemgláin aus Angst vor der Rache derer, die aus Wagrins Geschlecht waren.
Das war der Beginn des Endes von Vazarenia. Das Tor Vazarenias ließ sich nur mit beiden Äxten gemeinsam öffnen und schließen. Doch Téorandáur befand sich in den Händen der Erben Wagrins, Nemandáur indes in den Händen der Erben Khambrins, und die Feindschaft beider Sippen war so groß, dass sie sich nicht mehr darüber verständigen konnten, den gemeinsamen Schlüssel zu benutzen.
So waren die einen aus Vazarenia verbannt und heimatlos, die anderen nicht mehr in der Lage, Vazarenias Tor zu schließen. Die einst so mächtige Grube unter dem Nebelberg war nicht länger sicher und immer weniger Gidwargim wollten dort wohnen. Also wurde sie aufgegeben.
Die Nachkommen Téorlins, gleichwohl sie im Recht waren, zerstreuten sich, und ihre einst so stolze Sippe verfiel. Die Nachkommen Nemgláins wurden zu Vagabunden, aber sie blieben einander treu; und erst Meróin Eichenpfahl, der zwölfte diesesNamens, begann vor wenigen Jahren mit dem Graben einer neuen Grube in den Akhanaith endh Anth-i-dheriltené.
Und hier, Finn, mein junger Vahatir, hier hast du endlich deinen Wert, nach dem du fragtest: Es ist einer, der sich in Seltenheit bemisst und nicht in Kostbarkeit! Diese Axt ist nicht nur eine wundervolle Waffe, sondern zugleich einer der zwei Schlüssel zur einst mächtigsten Grube ihrer Zeit; und ich bin in langer Linie ein gerader Nachfahre Irváins und damit rechtmäßiger Erbe Nemandáurs!«
Glimfáin schwieg. Seine Zuhörer erwachten wie aus einem langen Traum, und jeder hing auf seine Weise dem Gehörten nach.
»Aber dieser … dieser Meróin«, stammelte Finn endlich. Er war verwirrt von den vielen -áins und -óins und seltsam berührt von der eigentlichen Geschichte hinter der von ihm geretteten Axt.
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