Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
zu belobigen, kam nicht in Frage. Das hätte dich erhöht und seine eigene Furcht gesteigert. Also bestrafte er dich stattdessen mit Stallausmisten. An seiner Stelle hätte ich in dir auch jemanden gesehen, der von Anfang an das Zeug dazu mit sich bringt, selbst zum Gauvogt zu werden.
Die ganze Sache gefällt ihm nicht, da könnt ihr sicher sein. Was ich sogar verstehen kann. Mir würde sie an seiner Stelle auch nicht gefallen. Versetzt euch einmal in seine Lage. Bis Freitag war er sein eigener und unangefochtener Herr: Gauvogt Gesslo Regenpfeifer, der unbestritten oberste Landhüter des Obergaus, in Landhüterfragen sogar der Stellvertreter des Vahogathmáhirs in dessen Abwesenheit. Ein wichtiger Vahit, auf dessen Wort die Leute auf viele Meilen im Umkreis hören. Aber dann!
Seit Freitagabend verselbstständigen sich die Dinge. Eines kommt zum anderen. Und ein jedes ist schlimmer als das Vorherige für ihn. Wie eine Lawine bricht es über ihn herein: Ermuss von einem Angriff auf das Hüggelland hören! Das ist so unvorstellbar, so ungeheuerlich … Er ahnt nicht einmal, was das bedeutet. Er wiegelt ab, folgt getreu dem Wahlspruch: Was nicht wahr sein darf, das nicht wahr sein kann! Er weiß nur eines – sollte es doch wahr sein, so würde dies seinen guten Ruf vollständig ruinieren. Ein Landhüter, ein Gauvogt gar, der sein Land nicht behüten kann! Bei allem, was ihm heilig ist! Nie und nimmer darf das sein! Darum sieht er nicht die Gefahr für euer Land und Volk, sondern fürchtet allein um sein Ansehen.
Gesslos eigener Dienstherr, der Bürgermeister, mischt sich daraufhin in seine Amtsgeschäfte ein. Welch eine Demütigung! Und es kommt noch einmal schlimmer: Ein Fremder – ein Mensch auch noch, ein Feind von altersher, ein Wuocht, wie er zu sagen beliebt – erhält kurzzeitig die Befehlsgewalt über seine Vogtey. Weil er selber zeigt, dass er der Lage nicht gewachsen ist. Eine doppelte Demütigung in seinen Augen! Ungerecht und unverdient! Was weiß schon dieser Wuocht!
Einer seiner Landhüter, von dem er selbst glaubte, er habe sich für ein paar heimliche freie Tage davongestohlen, hat seinerseits das getan, was eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Damit kommst du ihm in die Quere, Mellow: Du hast Verantwortung übernommen. Das weiß er ganz genau. Das beschämt und ärgert ihn zu gleichen Teilen. Hättest du zuerst ihn gefragt und zuvor um seine Erlaubnis ersucht – alles wäre in bester Ordnung gewesen. Er hätte sich womöglich in deinem Lichte sonnen und als Auftraggeber glänzen können. Aber so?
Zu seiner Schande entwickeln sich die Dinge immer schlimmer. Ausgerechnet du wirst von höchster Stelle ausgezeichnet, obwohl er, Gesslo, beschlossen hatte, dich zum Sündenbock zu erklären, dich zu bestrafen und zu erniedrigen. Und mehr noch: Du wirst befördert und zum Helvogt ernannt wie deine Brüder, womit du seinen Rang überspringst und ihm auch noch vorgesetzt bist! Folglich wird Gesslo schäumen vor Wut. Und das alles, nachdem er beim Rat öffentlich an Ansehen verlor und abermalsdurch seine Äußerungen zeigte, wie wenig er wirklich vom Ernst der Lage begriffen hat. Kurz gesagt: Herr Gesslo ist stinksauer, und seine Wut richtet sich vornehmlich auf uns beide!
Die Dinge gleiten ihm zunehmend aus den Händen, je mehr er sie zu greifen sucht. Wenn es ihm nicht bald gelingt, vor Herrn Wredian mit Erfolgen aufzuwarten, so sind seine Tage als Gauvogt gezählt. Das ahnt er nur zu gut. Schon jetzt muss er eine Untersuchung befürchten über die Frage, wie er seine Landhüterey eigentlich führt. Und das gefällt ihm am wenigsten von allem. Was er nicht weiß, ist, wie er das schaffen soll – vor Herrn Wredian zu glänzen, meine ich. Also sucht er nach Wegen aus diesem Missstand, und sein suchend Auge findet abermals dich und mich. Vergiss nicht: Gesslos Abneigung gegen uns wird von Argwohn geschürt. Vielleicht auch von einer uneingestandenen Angst – dem leisen Zweifel, wir könnten womöglich mit allem Recht haben und er stünde am Ende im Unrecht da.
Da wir es sind, die in seinen Augen sein Ungemach verursacht haben, sieht er in uns auch diejenigen, deren mögliche Fehler ihm zurück in die Gunst der Schöffen verhelfen können. Also braucht er jemanden, der uns im Auge behält. Einen, der später treuherzig bezeugen kann, wo und wann wir einen Fehler begehen. Der vielleicht sogar dazu beiträgt , dass etwas schiefgeht. Denn wenn wir versagen, kann er lächelnd sagen,
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