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Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Der verlorene Brief: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Brief: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert M. Talmar
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halb. Er sah die blaue Zunge zwischen den aufgerissenen Schnabelhälften für einen Sekundenbruchteil zittern, sich windend wie eine giftige Schlange. Ein Fauchen entfuhr dem Raubtierschlund. Dann schlug der gekrümmte Schnabel abermals zu; und nur, weil Finn die Beine unwillkürlich auseinanderriss, zerpflügte der Hieb die nasse Erde zwischen seinen Schenkeln. Der Criarg schrie enttäuscht auf. Er riss den Schnabel hoch und schüttelte den gewaltigen Kopf, dass die Erdbrocken zu beiden Seiten flogen. Wütend peitschte er mit ausgebreiteten Schwingen um sich; gelbe Augen funkelten.
    Die Ponys hielten ihrer eigenen Angst nicht länger stand. Sie flohen in verschiedene Richtungen, verschwanden zwischen Hauswänden und Hecken. Diesen Moment der Verwirrung nutzend, kam Finn auf die Knie. Er beugte sich vor und krallte beide Hände in den klebrigen Schlamm. Er zielte nicht, sondern warf einfach damit, darauf hoffend, die gelben Augen zu treffen. Die erste Handvoll ging vollständig fehl, die zweite traf zur Hälfte. Ein Auge erlosch, oder es erschien Finn so; in Wahrheit hatte ein dicker Fladen das Vogelgesicht getroffen, und ein zweiter Schnabelhieb geriet zu kurz. Wieder spritzte das Wasser der Pfütze auf, wieder kreischte der Criarg, inzwischen wütend und mehr als zuvor zum gnadenlosen Töten entschlossen. Finn sprang vollends in die Höhe und rannte fort, ohne Vorstellung, wohin. Die Angst ließ ihn die Beine wie von alleine heben, ohne nachzudenken und ohne einen Ausweg, doch irgendwie gelangte er um den Broch herum.
    Einen Schwall der üblen Ausdünstung vor sich hertreibend, setzte der große Vogel mit weiten Sprüngen dem fliehenden Vahit nach. Finn sah die Hütte aus dem Dunkeln auftauchen und hastete daran vorbei, jetzt von der Mauer fortlaufend, hinaus aufs freie Feld. Doch er bedachte nicht, dass er damit seinem Gegner einen nicht geringen Vorteil verschaffte. Denn die Beine eines Criargs waren kräftiger und flinker als die eines jeden Vahits, sofern sie ebenes Gelände zum Rennen hatten; und ebendas bekamen sie, als Finn, ohne es zu bemerken, das schützende Brada verließ. Der Criarg schrie erneut, diesmal siegessicher. Das Trampeln seiner Füße änderte sich, wurde rascher, wurde lauter, kam rasend schnell näher.
    Das peitschende Schlagen der ausgebreiteten Schwingen schwoll an; da trat Finn fehl. Der Boden unter seinen Füßen verschwand, und jetzt war er es, der schrie. In seiner Angst und Achtlosigkeit war Finn dem Rand des Steilhangs immer näher gekommen, der das diesseitige Ufer der Räuschel bildete. Mit seinem letzten Satz wich der Boden unter ihm zurück, und Finn sprang, ohne es zu wollen, weit in den Abgrund hinaus. Er fiel   – drei, vier, fünf Klafter tief; er rollte   – kopfüber, kopfunter   – den Hang hinab, eine kleine Lawine aus Sand und Steinen mit sich reißend, deren scharfe Kanten seine Haut aufschürften. Dann war der Schatten heran und griff nach ihm. Klauen rissen an seinem wehenden Mantel, durchbohrten ihn, verfingen sich darin. Ein gewaltiger Ruck riss ihn vom Hang hinfort. Zum zweiten Mal an diesem Tag entführte ihn ein Criarg gegen seinen Willen in die Lüfte; nur zappelte er diesmal hilflos in den unbarmherzigen Fängen, während die Flusswellen unter ihm im matten Mondlicht schimmerten.
    Der Criarg legte sich schräg und fing das zusätzliche Gewicht erst dicht über der Wasseroberfläche ab. Mit kräftigen Flügelschlägen suchte er längs des Räuschellaufes zu entkommen. Finn zerrte vergeblich an der Tassel, die den Mantel geschlossen hielt und ihn zu würgen begann.
    Ob es sein Zappeln war oder ein Fehlgriff der messerscharfen Klauen   – etwas über ihm am Mantel riss mit lautem Ratschen. Finn würgte erneut, obwohl der Druck auf seine Kehle verschwand; nur hob sich dafür sein Magen, während er fiel wie ein Stein. Doch kaum war er sich dessen bewusst geworden, da klatschte er auch schon auf dem Wasser auf und sackte durch bis auf den Grund.
    Schneidende Kälte packte ihn. Die Räuschel nahm an ihremOberlauf viele Bäche des Khênaith Eciranth in sich auf, die von den Schneefeldern herabrannen, und ihr Wasser war das eisigste im ganzen Hüggelland
    Er drückte sich ab und stellte überrascht fest, dass er stehen konnte, wenngleich ihm das Wasser bis zum Hals reichte. Er musste nahe der Furt gefallen sein. Und richtig   – da war das Ufer mit seinem hölzernen Laternenpfahl, kaum mehr als zehn Klafter entfernt. Er beeilte sich, paddelte und strampelte,

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