Der verlorene Ursprung
ihr Vermächtnis finden können, ein Vermächtnis, das ihnen den Schlüssel zu beachtlicher Macht geben würde. Aber vielleicht würde diese Macht ihnen gar nicht helfen zu überleben, Nahrungsmangel oder Krankheiten zu überstehen, sondern das Vermächtnis an sich würde erhalten bleiben, statt für immer verlorenzugehen. Also hatten sie mit dem Bau der Pyramide des Reisenden ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt: Sie wollten gar nicht einer in Schwierigkeiten steckenden Menschheit Hilfe anbieten, wie wir angenommen hatten, als wir den von meinem Bruder vorgezeichneten Gedankengang weiterverfolgt hatten. Nein, sie wollten verhindern, daß ihr Wissen für immer verlorenging. Und offenbar war es ihnen auch egal gewesen, auf welche Art und Weise besagte Macht genutzt wurde. Ihnen war nur wichtig gewesen, daß sie überdauerte.
Als mir das klarwurde, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Mit jeder neuen Stufe, auf die ich meinen Fuß setzte, veränderte sich mein Blick auf die Dinge. Wir waren mit einer falschen Vorstellung hergekommen, einer Vorstellung, die uns die Sicht auf die Wahrheit verstellt hatte. Keiner von uns war auf den Gedanken gekommen, daß wir durch unseren Zugriff auf das geheime Wissen der Yatiri in den Besitz einer weltweit einmaligen und einzigartigen Macht gelangen würden. Einer Macht, die so Außergewöhnliches zu leisten vermochte wie das, was meinem Bruder zugestoßen war. Aber ein Mensch hatte vielleicht doch die richtige Vorstellung gehabt und sich deshalb seinen möglichen Konkurrenten aggressiv entgegengestellt. Verhielt sich Señora Torrent so, weil sie zu wissen glaubte, wieviel uns am Besitz dieses seltenen und gefährlichen Privilegs lag? Wollte sie selbst es um jeden Preis erlangen? Und wenn ja, zu welchem Zweck? Um ihre Entdeckungen in anthropologischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen und akademische Auszeichnungen zu erhalten? Von diesem neuen Standpunkt aus betrachtet, erschien eine solche Absicht geradezu lächerlich. Welche Regierung der Welt würde eine derartige Macht in den Händen einer Universitätsprofessorin belassen? Deshalb also hatte sie bei ihrem Anruf gesagt, sie könne mir Daniels Material nicht überlassen und die Situation sei sehr heikel! Welche Worte hatte sie genau benutzt .? >Wenn auch nur eine der Unterlagen verlorenginge oder in die falschen Hände geriete, wäre das eine Katastrophe für die akademische Welt.< Für die akademische Welt oder für die ganze Welt? >Sie können sich nicht im entferntesten die Bedeutung dieses Materials vorstellen.< Nein, damals hatte ich es mir nicht vorstellen können, aber jetzt ja. Deshalb war es immens wichtig, daß die Doctora nicht an das Wissen der Yatiri herankam.
Am oberen Ende der Treppe angelangt, stand ich vor einer eindrucksvollen Mauer aus großen Steinblöcken. Sie begrenzte einen dunklen Gang, der sich nach rechts und links fortsetzte. Wenn unsere Annahmen stimmten, handelte es sich um die Außenwand der Kammer des Reisenden oder Kammer der gehörnten Schlange, und der Gang führte wie ein Chorgang um den ganzen Raum herum. Wir würden also sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung zum Eingang gelangen.
»Endlich!« seufzte Proxi, als sie neben mir ankam.
Ich beugte mich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Lola, hör mir mal genau zu. Die Doctora darf nicht mit uns in die Kammer.«
»Spinnst du?« rief sie und trat einen Schritt zurück, um einen Blick auf mein Gesicht zu werfen.
Für einen kurzen Moment blendete mich ihre Stirnlampe. Ich zwinkerte, lauter funkelnde Sternchen vor Augen, die sich mir in die Netzhaut eingebrannt hatten. »Du kannst nicht zulassen, daß sie dort hineingeht, Lola. Sie will die Macht der Worte.«
»Wir doch auch.«
»Was tuschelt ihr denn da, ihr beiden?« fragte Jabba laut, als er die letzte Treppenstufe erreichte. Gleich hinter ihm tauchte die Doctora auf.
Lola sah mich an, als sei ich verrückt geworden, und drehte sich zu ihm um. »Nichts. Irgendein Blödsinn von Root.«
»Dann hör auf, Blödsinn zu reden, Root.«
»Root ...?« wunderte sich Marta Torrent. »Warum werden Sie denn >Wurzel< genannt?«
»Das ist mein ...« So was Blödes, einem Greenhorn die Internetspitznamen erklären zu müssen! »... mein nick, mein tag. Im Internet reden wir uns untereinander mit Pseudonymen an. Das machen alle. Root nennt man das Hauptverzeichnis eines Ordnersystems, das Wurzelverzeichnis sozusagen. Bei Computern, die mit dem Betriebssystem Unix arbeiten,
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