Der verlorene Ursprung
uns nicht weiter überraschen. In dieser Gegend gab es damals Unmengen von Gold, bis wir Spanier kamen. Außerdem galt es wegen seiner erstaunlichen Eigenschaften in Tiahuanaco als heilig. Wußten Sie, daß Gold von allen Edelmetallen die erstaunlichsten Eigenschaften besitzt? Es reagiert nicht, rostet also nicht, und ist so geschmeidig und formbar, daß es sich genausogut zu haarfeinen Fäden oder zu großen, widerstandsfähigen Kettengliedern wie diesen hier verarbeiten läßt. Die Zeit kann ihm nichts anhaben noch irgendeine in der Natur vorkommende Substanz. Gold ist ein ausgezeichneter elektrischer Leiter, ruft keine Allergien hervor und ist nicht reaktiv. Und nicht zu vergessen, sein Lichtbrechungsindex ist einer der höchsten überhaupt, da es sogar infrarote Strahlen reflektiert. Man hat sogar die Motoren der Raumschiffe damit überzogen, weil es das einzige Metall ist, das den dort entstehenden extrem hohen Temperaturen standhält, ohne zu zerschmelzen wie Schokolade in der Hand.«
In der Chronik der Yatiri, die mein Bruder anhand verstreuter Texte zusammengestellt hatte, hieß es in der Tat, sie hätten ihr schriftliches Vermächtnis in Gold hinterlassen, da dies in ihren Augen heiliges Metall von ewiger Dauer war. Aber warum hatte eine auf Ethnolinguistik spezialisierte Anthropologin sich so eingehend mit diesem Metall befaßt? Ihr Blick wanderte zwischen uns dreien hin und her, als stünde uns die Frage ins Gesicht geschrieben.
»Ich war erstaunt, als ich entdeckte, daß die Yatiri ihre Texte auf Goldtafeln niedergeschrieben haben, wie Sie ja sicher wissen. Ich verstand nicht, warum. Ich dachte, wenn sie ihre Botschaften auf einem wirklich stabilen Untergrund hinterlassen wollten, hätten sie doch zum Beispiel Steinplatten nehmen können. Dennoch scheinen sie größten Wert darauf gelegt zu haben, auf Gold zu schreiben, und das hat mich neugierig gemacht. Nun, zweifellos ist Gold weitaus geeigneter als Stein, da es unveränderlich und widerstandsfähig ist.«
»Deshalb schrieben sie auf Goldtafeln«, wiederholte Proxi.
»Und die verwahrten sie in der Kammer des Reisenden, bevor sie Taipikala verließen.«
Doctora Torrent lächelte wieder. »Taipikala, in der Tat. Und der Reisende ... Menschenskind, Sie wissen ja alles!«
»Wollen wir hier Wurzeln schlagen?« murrte ich und begann, langsam die Treppe zu erklimmen.
Niemand antwortete, alle setzten sich in Bewegung und folgten mir. Warum hatte die Doctora so ausführlich über das Gold gesprochen? Uns geradeheraus nach dem zu fragen, was wir wußten, wäre ihr zu plump gewesen. Also hatte sie uns eine Falle gestellt. Besonders auffällig hatte sie bei der Erwähnung von Thunupa reagiert, hatte darin den weniger verbreiteten Namen des Zeptergottes erkannt und uns zu verstehen gegeben, daß ihr Kenntnisstand sich mit unserem auf gleicher Höhe befand. Als ich in ihrem Büro mit ihr gesprochen hatte, hatte sie Thunupa gar nicht erwähnt. Und genauso hatte sie reagiert, als es um Tiahuanacos geheimen Namen Taipikala und um den Reisenden ging. Sie versuchte, uns irgendwie zu vermitteln, daß sie sich mit der ganzen Geschichte bestens auskannte. Doch dieser eine Satz von ihr ging mir nicht aus dem Kopf: >Ich war erstaunt, als ich entdeckte, daß die Yatiri ihre Texte auf Goldtafeln niedergeschrieben haben, wie Sie ja sicher wissen.< Dieses >wie Sie ja sicher wissen< war keine Frage gewesen, sondern eine Feststellung. Alles, was sie uns über das Edelmetall erzählt hatte, waren für jedermann zugängliche Fakten, belanglose Informationen. Nur dieser eine Satz nicht. Ganz offensichtlich hatte sie eine Reaktion von uns erwartet. Wollte sie testen, ob wir von den Goldtafeln wußten? Und tatsächlich hatte sie bekommen, was sie wollte. Denn Proxi hatte ihr in ihrer Antwort zwei aufschlußreiche Dinge verraten: Sie hatte Taipikala und den Reisenden erwähnt. Somit war die Doctora nun genau im Bilde über den Umfang unserer Kenntnisse. Und auf ihre Art hatte auch sie uns mitgeteilt - für den Fall, daß es uns interessierte -, was sie selbst wußte. Dabei wollte sie betonen, wieviel mehr das war, weil sie ja sogar so nebensächliche Details wie die über das Gold gründlich erforscht hatte.
Und die Geheimnisse der Yatiri? Warum hatten sie ihr bedeutendstes Wissen in dieser Weise geschützt? In der Chronik stand klar und deutlich: Sollte noch einmal eine weltweite Katastrophe oder eine Sintflut eintreten wie die zur Zeit der Giganten, würden die Überlebenden
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