Der verlorne Sohn
worden. Dasselbe war gestern wieder geschehen. Er befand sich in großer Sorge, und als er heute eine briefliche Aufforderung erhielt, sich am Nachmittage zu einer angegebenen Zeit bei Doctor Zander einzufinden, ahnte er nicht, daß diese Einladung sich auf seine Mutter beziehe.
Er begab sich zu der bestimmten Zeit nach der Wohnung des Arztes, den er von Rollenburg her kannte. Im Vorzimmer saß eine alte Verwandte Zander’s, welche er zu sich genommen hatte, um nicht allein zu sein. Er sagte ihr seinen Namen. Sie sah von ihrem Strickstrumpfe weg und über ihre Brille hin ihm in’s Gesicht und sagte: »Treten Sie da durch diese Thür. Der Herr Doctor ist abgerufen worden und wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.«
Sie machte dabei ein eigenthümliches, wohlwollend-verschmitztes Gesicht. Und das hatte seinen Grund. Sie hatte nämlich von Zander alle Verhältnisse der Kranken, die jetzt bei ihm wohnte, erfahren; sie wußte also auch, daß Marie Bertram die Geliebte Fels’ sei.
Er folgte der Aufforderung und trat in das Zimmer. Am Fenster stand eine schlanke aber volle Mädchengestalt, welche sich, als die Thüre ging, nach derselben umdrehte. Er erschrak freudig, trat schnell auf sie zu und rief: »Marie! Du hier? Du?«
»Wilhelm! Herr Fels!« antwortete sie verwirrt.
Sie wollte ihm die Hand entziehen, welche er ergriffen hatte, aber er gab dieselbe nicht wieder her.
»Herr Fels! So nennst Du mich?« fragte er. »Welchen Grund hast Du dazu?«
»Den, welchen Du weißt.«
»Ich weiß keinen, gar keinen.«
»O doch!«
»Sage mir ihn, schnell!«
»Nein, nein! Lassen wir das! Was thust Du hier?«
»Ich weiß nicht, was ich soll. Ich wurde bestellt.«
»Ich auch.«
»Du auch? Du hast eigentlich nichts hier zu thun?«
»Nein. Ich erhielt diese Zeilen.«
Sie zog den Brief hervor und zeigte ihm denselben.
»Gerade so wie ich,« sagte er. »Das ist mir räthselhaft. Was mag dieser Doctor Zander von uns wollen!«
»Wir werden es jedenfalls erfahren. Willst Du Dich nicht setzen?«
Sie zeigte auf einen Stuhl und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. Er hielt sie noch immer fest und antwortete: »Ja, ich werde mich setzen, wenn Du Dich neben mich setzt. Komm! Ah, nicht? Magst Du nichts von mir wissen?«
Sie wandte sich ab und antwortete nicht.
»Sag es, Marie!« bat er. »Du magst nichts mehr von mir wissen?«
Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:
»Hast Du meine Briefe erhalten?«
»Ja,« sagte sie, doch ohne ihn anzusehen.
»Und auch gelesen?«
»Ja.«
»Ich bat Dich, mit Dir sprechen zu dürfen. Ich bat um Antwort, ich gab meine Adresse an. Du schriebst nicht wieder. Nun schrieb ich einen nächsten Brief. Ich bat Dich um eine Zusammenkunft. Ich gab Dir die Zeit und den Ort an. Ich ging hin, aber Du kamst nicht.«
»Ich konnte nicht,« antwortete sie zögernd.
»Warum nicht?«
»Ich hatte keine Zeit.«
»Keine Zeit! Für mich! Auf solche Bitten! Ich habe so viele, viele Male vor dem Hause gestanden, und Du mußt mich auch gesehen haben. Nicht wahr, Du hast mich gesehen?«
Sie nickte, ohne zu sprechen.
»Ich dachte, Du würdest einmal herunterkommen, Du aber kamst nicht. Du hattest auch da keine Zeit?«
»Ja.«
»Das ist traurig! Ich denke nun, daß Du auch fernerhin keine Zeit haben wirst. Du magst nichts mehr von mir wissen. Es soll zwischen uns aus sein. Nicht wahr?«
Sie athmete schwer und stieß erst nach einer Weile hervor:
»Ja, es ist aus!«
»Ganz gewiß und unwiderruflich?«
»Ganz gewiß.«
Da endlich ließ er ihre Hand los, ging langsam zum Stuhle und setzte sich nieder. Sie wankte zum Fenster und blieb dort stehen, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. So blieb es eine ziemliche Weile still im Zimmer.
»Marie!« sagte er endlich.
Sie antwortete nicht.
»Warum soll es denn aus sein?«
Auch jetzt erhielt er keine Antwort.
»Weißt Du noch, wie schön es war in der Wasserstraße, wenn wir mit einander auf der alten Ofenbank saßen, und die Mutter ging hinaus, um uns allein zu lassen?«
Sie schluchzte leise vor sich hin.
»Wir waren arm, sehr arm; aber es war schön!«
Sie hielt die Hand an die Augen, antwortete aber nicht.
»Jetzt freilich ist es anders,« fuhr er fort. »Ihr seid reich.«
»Wilhelm!« stieß sie hervor.
»Nun ja. Dein Bruder ist beim Fürsten, und Du bist bei einer Baronesse. Was soll da der arme Mechanikus!«
»Wilhelm, das ist’s nicht!«
»Was denn?«
»Du weißt es.«
»Ach ja, ja, ich weiß es,« sagte er, wie sich besinnend.
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