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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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dessen Verfasser zu errathen ihr unmöglich gewesen war. Es lautete:
    »Geehrtes Fräulein.
     
    Schon seit langer Zeit kenne ich Sie, obgleich ich mich Ihrer Aufmerksamkeit nicht erfreuen durfte. Ich sehne mich danach, Ihre Bekanntschaft zu machen und gäbe viel darum, wenn es mir gelingen könnte, Ihre Liebe zu erwerben. Sollte Ihr Herz noch nicht vergeben sein, so kommen Sie heute Abend wieder in das Tivoli. Ich werde daraus merken, daß Sie noch frei sind, und dann die Gelegenheit nicht versäumen, mich Ihnen zu Füßen zu legen.«
     
    Unterschrieben waren diese Zeilen nicht. Jedes Mädchen freut sich, wenn sie gefällt, die Zofe freute sich auch, und zwar um so mehr, als sie eine bedeutende Portion Gefallsucht besaß. Sie war neugierig, den Verfasser kennen zu lernen. Auch ohne seinen Brief hätte sie heute das Tivoli besucht; nun aber ging sie natürlich erst recht.
    Sie war kaum eingetreten, so wurde sie auch bereits engagirt. Sie tanzte fast jede Tour; aber diese Tänzer waren die gewöhnlichen; der Briefschreiber befand sich jedenfalls nicht unter ihnen. Da kam ein junger Mann die Reihe der Sitze entlang, dessen Gesicht ihr bekannt vorkam. Er blickte nicht nach ihr; er schien seine Aufmerksamkeit auf anderwärts gerichtet zu haben; aber als er an ihr vorüberschreiten wollte, fiel sein Blick wie zufällig auf sie, und er blieb stehen.
    »Verzeihung, mein Fräulein,« sagte er, »mir ist, als ob ich Sie kennen müsse.«
    Er war von stattlicher Figur und elegant gekleidet. Sein Ton klang sehr höflich, und die Verbeugung, welche er machte, befriedigte sie noch mehr. Darum antwortete sie: »Auch mir ist es so, als ob ich Sie bereits gesehen hätte.«
    »Wenn Sie mir erlaubten, neben Ihnen Platz zu nehmen, könnten wir überlegen, wo wir uns begegnet sind.«
    »Bitte, setzen Sie sich!« klang ihre Aufforderung.
    Er that es.
    »Ob dieser es ist?« dachte sie.
    Er gefiel ihr nicht übel. Sie sah eine schwere Uhrkette an seiner Weste und theure Ringe an seinen Fingern. Er schien also wohlhabend zu sein, obgleich er nicht gerade etwas Vornehmes an sich hatte. Einem Menschenkenner hätten seine zusammengekniffenen Lippen und sein stechender Blick nicht gefallen.
    »Also, wo wir uns gesehen haben?« sagte er, die Beine gemächlich über einander legend.
    »Ja. Hier ist es nicht gewesen,« antwortete sie.
    »Wenigstens früher nicht. Einige Male habe ich Sie hier bemerkt, doch erst in letzter Zeit.«
    »Und früher, wo? Ihr Gesicht kommt mir heimathlich vor.«
    »Mir das Ihrige auch. Ich bin aus Grünbach.«
    »Meinen sie das Grünbach, welches dem Freiherrn von Tannenstein gehört?«
    »Ja.«
    »So liegt Ihre Heimath freilich sehr nahe an der meinigen. Ich bin aus Reitzenhain, welches Herrn von Hagenau gehört.«
    »Ach, jetzt erklärt es sich! Also dort haben wir uns gesehen. Nun, wissen Sie es, und die Untersuchung ist zu Ende. Muß ich deshalb nun wieder fort?«
    »O nein,« antwortete sie lächelnd. »Ich werde doch meinen Landsmann nicht fortschicken, zumal – –«
    Sie hielt inne und blickte ihn schalkhaft forschend an.
    »Was wollen Sie sagen?« fragte er.
    »Können Sie schreiben?« lachte sie.
    »O, sehr gut,« lachte auch er.
    »Vielleicht Briefe an Damen?«
    »Wenn es sehr nothwendig ist, ja.«
    »Wann haben Sie den letzten Brief an eine Dame geschrieben?«
    Er machte eine bedenkliche Miene und antwortete dann:
    »Das kann noch nicht so sehr lange her sein.«
    »An wen?«
    »Wollen Sie das nicht lieber errathen?«
    »Das kann ich nicht. Lieber möchte ich es von Ihnen hören.«
    »Ich würde es wohl sagen, wenn ich wüßte, daß die Betreffende nicht bös darüber gewesen ist.«
    »Nun, ich glaube nicht, daß man Ihnen eines Briefes wegen bös sein würde. Was haben Sie denn geschrieben?«
    »Ich bat die Dame, heute hierher zu kommen.«
    »Wozu?«
    »Ich hätte gern einige Touren mit ihr getanzt und – –«
    »Was? Was noch?«
    »Sie dann auch weiter kennen gelernt.«
    »Ist sie denn gekommen?«
    »Ja.«
    »Sie Glücklicher!«
    »Ja,« nickte er, »ich bin allerdings ganz glücklich darüber.«
    »Und ich bin ganz neugierig, sie zu sehen. Wo sitzt sie?«
    »O, auf diese Weise werde ich es nicht verrathen. Aber passen Sie auf; diejenige, welche ich bei der nächsten Tour engagiren werde, die ist es.«
    »Da werde ich allerdings genau aufmerken.«
    Gerade jetzt war die Pause zu Ende, und die Musik intonirte einen flotten Galopp. Er erhob sich, verbeugte sich und bat um ihren Arm. Sie gab ihm denselben,

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