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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Morgen, gleich in der Früh, würde er jemanden nach dem Tag fragen. Vielleicht würde ihm Polly morgen eine Nachricht schicken. Vielleicht würde sie sogar kommen, ihn ohne Abscheu ansehen, die Arme ausbreiten und ihn an sich drücken. Sie würde ihn auf die Stirn küssen, auf die Augenlider und Handteller, so, wie sie Di küsste, wenn er auf ihrem Schoß saß, und sie würde ihm verzeihen. Als sich William schließlich von dem eisigen Boden erhob, um sich unter der von Erbrochenem durchtränkten Decke zu wärmen, das Gesicht verkrustet, auf der Wange Brandblasen, schimmernd wie weiße Tränen, verzogen sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln.
    Am Morgen kam Vickery, wie gewöhnlich fahlgelb im Gesicht und mit dunklen Schatten unter den blutunterlaufenen Augen. Mit großer Sorgfalt verabreichte er das Chloral, den Kopf hoch aufgerichtet, als fürchtete er, er könne ihm hinunterfallen. Als er an Williams Bett trat, befahl er ihm in harschem Ton aufzustehen. Peake werde ihn in den Waschraum bringen, wo man ein warmes Bad für ihn habe einlaufen lassen. Voller Angst, man bringe ihn zur Brause, schaute William ungläubig auf die Wanne. Sogar ein abgenutztes Stück Seife war vorhanden. Als er sich das dreckige Hemd vom Leib riss, zuckte er zusammen. Die Arme zu heben bereitete ihm Schmerzen. Über die rechte Seite seiner Brust zogen sich violette Blutergüsse, und sein Gesicht brannte, als er es mit Wasser bespritzte. Peake besah sich gleichgültig die Verletzungen, bevor er sich lässig an die Wand lehnte und mit dem Zeigefinger in der Nase bohrte. Als Vickery eintrat, war das Badewasser bereits kalt. Eilig wischte sich Peake den Finger am Hosenbein ab und nahm Haltung an. Vickery schickte ihn weg.
    »Hier«, murmelte Vickery, ohne William in die Augen zu sehen. »Ich dachte … vielleicht interessiert es dich. Aber nur hier drin. Wenn ich dich im Schlafsaal damit erwische, gibt’s Einzelhaft.«
    Auf halbem Weg zur Tür warf er ein zerlesenes Exemplar des
Morning Herald
auf den einzigen Stuhl. Die Seiten waren schon zerrissen, die Buchstaben verschmiert. William nahm die Zeitung in die Hand. Seine Augen waren des Lesens entwöhnt, und er musste sich zwingen, sich auf die kleine Schrift zu konzentrieren. Zuerst sah er auf das Datum. 14 . Januar 1859 . Ein neues Jahr. Weihnachten war vorübergegangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Er wurde müde und wollte das Blatt schon wieder zusammenlegen, als ein Artikel auf Seite fünf seine Aufmerksamkeit erregte.
    Mörder von Ermittlern eingekreist
    Polizeibeamte, die im Zusammenhang mit dem Tod des Londoner Ziegeleibesitzers Alfred England ermitteln, dessen Leiche vor zwei Tagen aus der Themse geborgen wurde, haben bestätigt, dass der Geschäftsmann Opfer eines Mordes wurde. Obwohl keine näheren Einzelheiten genannt wurden, bestätigte ein leitender Kriminalbeamter gegenüber dieser Zeitung, dass man Mr. England die Kehle durchgeschnitten hatte. Darüber hinaus wurden an Brust und Schultern zahlreiche Wunden festgestellt, die auf Gewaltanwendung hinweisen. Die Leiche wurde durch Ratten stark in Mitleidenschaft gezogen, was darauf schließen lässt, dass sie unmittelbar nach dem Mord im städtischen Abwassersystem versteckt wurde. Das Gesicht war derart entstellt, dass die Leiche nur anhand der Initialen auf Mr. Englands Hemd und Unterwäsche identifiziert werden konnte.
    Als Mr. England, dessen Ziegelei sich in einer schweren finanziellen Krise befand, in der Nacht zum 16 . Dezember ohne Vorankündigung verschwand, nahm man zunächst an, er sei vor seinen Gläubigern geflohen. Scotland Yard zeigte sich zuversichtlich, dass der Täter schon bald gefasst wird.

XXIII
    D u hast doch von dem Toten gehört, den sie aus dem Fluss gefischt haben, dem feinen Herrn mit der Ziegelei? Die Polypen haben den Täter schon geschnappt. Und in der Moor Street hinter Schloss und Riegel gesetzt.«
    »Glaubst du wirklich, die haben den Richtigen erwischt? Diese Blödmänner vom Revier würden’s doch nicht mal schaffen, sich die Cholera einzufangen, selbst wenn sie in einem Abwasserloch hausen und sich bis zum Rand mit der stinkenden Brühe abfüllen würden.«
    Die beiden Männer lachten und nahmen einen weiteren Schluck. Tom, der am Ende der Theke nah am Kamin seinen Krug umklammert hielt, rührte sich nicht von der Stelle, drehte aber den Kopf ein wenig, um die beiden besser verstehen zu können.
    »Unfähige Trottel, da hast du Recht«, meinte der Erste zustimmend.

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