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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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steifen Arme warm. Und war-
    tete weiter. Je mehr das Wasser zurückwich, desto mehr verän-
    derte sich auch der Himmelsausschnitt. Die Kähne sanken im-
    mer tiefer in den Schlick und stießen mit den Rumpfkanten über
    ihm aneinander. Tom kauerte sich noch tiefer und wartete, dass
    das Wasser nur mehr Pfützen im Schlamm bildete. Endlich
    stand es tief genug. So schnell es seine gefrorenen Finger erlaub-
    ten, streifte er sich den Mantel wieder ab und holte aus dem
    Bündel das Taschentuch des Mannes, um es ihm in die Brustta-
    sche zu stecken, fest genug, dass es nicht herausfiel, aber doch so,
    dass die Enden mit den Initialen, wie bei einem geschniegelten
    Stutzer üblich, zu sehen waren. Dann zog er dem Toten den
    Mantel über. Da sich seine Arme nicht biegen ließen, zerrte er
    ungeduldig an ihnen, bis krachend ein Knochen brach. Der Man-
    tel würde seinen Zweck erfüllen, auch wenn er nicht der Klei-
    dung eines feinen Herrn entsprach. Tom hätte natürlich den
    Mantel des Mannes nehmen können – er hatte ihn aufgehoben –,
    doch er war ihm zu schade. Es wäre Verschwendung gewesen, ihn
    dem Toten zu überlassen, dem diese feine Qualität nun nichts
    mehr nützte. Der Mantel würde nur vermodern, wenn man die
    Leiche begrub. Als der Tote so weit wieder eingekleidet war, zog
    Tom ihn vorsichtig bis zum Bug der Kähne. Das war der riskan-
    teste Teil. Denn der Kopf musste weit genug herausragen, dass
    die Leiche entdeckt würde, bevor die Flut wieder einsetzte, aber
    zugleich wollte Tom vermeiden, dass man sie fand, bevor er in
    sicherer Entfernung war. Er atmete tief ein und schob die Leiche

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    unter das Kettenknäuel an dem wackligen Steg. Dann schlich er
    sich, so schnell er konnte, davon, indem er die Kähne und die
    Ufermauer als Deckung nutzte und sich so dünn machte, dass er
    fast unsichtbar blieb.
    Ein paar hundert Meter flussabwärts kletterte er die Ufer-
    treppe hoch. Da er fürchtete, sich in den nassen Kleidern zu
    Tode zu frieren, steuerte er schnurstracks ein Kaffeehaus an, wo
    er sich, vor einem zischenden Feuer sitzend, trocknen ließ, die
    Hände um einen heißen Becher Tee mit Brandy geschlungen.
    Der Dampf, der von ihm aufstieg, verpestete den engen Raum
    mit dem Verwesungsgestank der Themse. Kurz darauf machte er
    sich auf den Weg und schlenderte den Fluss entlang nach Osten.
    Am Ufer hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die Leute
    deuteten alle in eine Richtung. Tom spähte hinüber. Zwei Them-
    sefischer hatten ihr klappriges Boot am Steg vertäut und waren
    gerade dabei, unter den Ankerketten e
    d r Kähne etwas hervorzu-
    ziehen.
    »O gütiger Himmel!«, kreischte
    e
    ein Frau entsetzt und reckte
    den Hals, um besser sehen zu können. »Bestimmt eine Leiche.«
    »Unglaublich«, erwiderte Tom und schüttelte erstaunt den
    Kopf. »Unglaublich.«
    Er wartete nicht, um zu sehen, in welche Richtung die Them-
    sefischer ablegten. An den meisten Anlegestellen am Südufer
    würden sie dafür ein paar Shilling bekommen. Eigentlich sein
    Geld, dachte Tom, als er langsam weiterschlenderte, aber gleich-
    zeitig grinste er.

    284

XXII

    A ndere im Schlafsaal verweigerten die Einnahme der Medika-
    mente, die Vickery ihnen zweimal täglich verabreichte, indem
    sie taten, als würden sie sie schlucken, um sie später wieder aus-
    zuspucken, oder indem sie den Mund fest zusammenpressten.
    Nicht so William. Die Medizin verursachte ihm Übelkeit und
    verwirrte ihn, er bekam einen trockenen Mund, und es fühlte
    sich an, als wären seine Schläfen in einen Schraubstock einge-
    klemmt. Lähmende Angst legte sich auf ihn wie ein öliger Film,
    raubte ihm den Atem und ließ seine Lider zucken. Aber die
    Medikamente bewirkten auch, dass sein Bewusstsein mit einer
    klebrigen Schicht umhüllt wurde, so dass er sich selbst verbor-
    gen blieb. Wenn die Wirkung des Chloral einsetzte, schien ihm
    der Wahnsinn näher, realer. Zweimal täglich zog ihn das starke
    Beruhigungsmittel in die Dunkelheit hinab, trennte ihn von Zeit
    und Raum und höhlte ihn innerlich aus, so dass der Wahnsinn
    in seine geheimsten Winkel dringen und dort Fuß fassen konnte.
    Wenn im kalten Grau einer neuen Morgendämmerung die
    Außenwelt mit ihrem Streben und Trachten in seinen erschöpf-
    ten Schädel zu sickern drohte und ihr schwaches Licht auf seine
    Hirnrinde warf, schloss das Chloral die Fensterläden, so dass
    nichts eindringen konnte. Den anderen Männern auf der Sta-
    tion schenkte William keine Beachtung, und er

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