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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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sprach mit nie-
    mandem. Nur wenn man ihn zum Abort brachte oder in den
    Speisesaal zu den kargen Mahlzeiten, erhob er sich aus seinem
    Bett. Er aß wenig und zerkrümelte das grobkörnige Brot zwi-
    schen den Fingern. Auch seine Gedanken zerkrümelten, wenn er

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    in ihnen herumstöberte. Er ließ sie fallen, und es lag eine ver-
    zweifelte Befriedigung darin, nicht mehr dagegen ankämpfen zu
    müssen. Da er über nichts nachzudenken hatte und ihm auch
    die Anreize dazu fehlten, beschäftigte er sich geradezu zwang-
    haft mit seinen geringfügigeren Gebrechen: den wunden Stellen
    an Schenkeln und Gesäß, wenn ihn Vickery zur Strafe einen Tag
    lang in seinem Urin hatte liegen lassen; den Krämpfen in den
    Beinen; den Ohrenschmerzen oder dem ständigen Husten. Häu-
    fig verlangte er Tinkturen oder ein Tonikum und ärgerte sich,
    wenn sie ihm dann gebracht wurden, über ihre mangelnde Wir-
    kung. Er schlief kaum, döste aber immer wieder ein, wachte aus
    diesem unruhigen Zustand in kalten Schweiß gebadet auf und
    verlangte Chloral. Fest im quälenden Griff der Medikamente,
    das Bewusstsein umnebelt, eingesperrt in regelhafter Gleichför-
    migkeit, empfand er, zumindest bei Tage, so etwas wie Frieden.
    Eines Morgens, als das trübe Licht eines neuen Tages durch das
    hohe Fenster sickerte, wurde der Prophet auf die Station zurück-
    geschickt. Das Licht in seinem Gesicht war erloschen, er sah ge-
    wöhnlich aus und erschöpft. So verging eine Woche und dann
    wieder eine.
    Während andere Anstaltsinsassen von Zeit zu Zeit Post er-
    hielten, schickte Polly nie etwas. William erwartete auch nichts.
    Der Wahnsinn trennte sie vollkommen und unwiderruflich wie
    der Tod. Gelegentlich überkam ihn eine Ahnung von ihr, er
    spürte ihren Atem auf seinem Nacken und erschauderte, so
    als wäre er derjenige, der noch lebte, und sie der Geist einer
    Verstorbenen. Sie gehörten nicht mehr derselben Welt an. Doch
    in seinen wüsten Träumen verfolgte ihn das ungeborene Kind.
    Nacht für Nacht erstarrte er in kaltem Schrecken, wenn durch
    Pollys Batistkleid mit dem Zweigmuster ein schrecklicher schwar-
    zer kleiner Dämon hervorbrach, der wild schreiend um sich
    schlug – nicht etwa mit kleinen Ärmchen und Beinchen, son-

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    dern mit hundert außer Rand und Band geratenen Tentakeln,
    der Verkörperung des Irrsinns schlechthin. Nacht für Nacht
    sah er das Entsetzen in Pollys Blick, wenn dieses Wesen von ih-
    ren Armen heruntersprang, kreischend und tobend, kratzend
    und würgend, zerrend und reißend, und zu Grauen erregender
    Größe heranwuchs, während es sein Werk der Verwüstung
    in Angriff nahm. Nacht für Nacht ging das so, und wenn alles
    zerstört war, richtete es seine irren roten Augen auf William.
    Dann plötzlich nahm sein grässliches Gesicht sanfte Züge an, es
    streckte die Fangarme aus, hingebungsvoll und friedlich, und
    murmelte nur ein einziges Wort. »Vater«, sagte es voller Liebe
    und Zuneigung. »Vater.«
    Beim ersten Mal weckte William den ganzen Schlafsaal mit
    seinen Schreien, bis Vickery ihn mit eiserner Hand wachrüttelte
    und ihm zur Strafe für den Rest der Nacht ein Stofftuch um den
    Mund band. Am nächsten Morgen erwähnte Vickery den Vorfall
    mit keinem Wort, doch als er William den Knebel abgenommen
    hatte, befahl er Peake, ihm Salbe für die wunden Stellen zu brin-
    gen. Und beim Frühstück schmeckte William zum ersten Mal,
    seit er in der Anstalt war, Zucker im Tee.
    An Di wagte William gar nicht zu denken. Der Gedanke wühl-
    te nur in seinen Eingeweiden und entzündete die erkaltete Glut
    in seiner Brust. Schon winzige Erinnerungsfetzen – die Wim-
    pern des Kleinen, die über Williams blasse Wange strichen, die
    Grübchen in seinen plumpen Händchen, die weichen rosafar-
    benen Zehenknospen – reichten, dass die mit Narben übersäte
    Haut seiner Unterarme vor brennendem Verlangen kribbelte
    und er trotz des starken Beruhigungsmittels spürte, wie sich in
    seiner Magengrube der Wunsch regte, sich zu verletzen. Er grub
    die Fingernägel in die Handflächen, immer tiefer, und wartete
    darauf, dass Benommenheit ihn überkam. Und es dauerte nie
    lange. Das Chloral war stark, die Dosen viel zu stark für eine

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    langfristige Einnahme, aber schließlich war die Anstalt personell
    unterbesetzt. Das Chloral übernahm klaglos die Aufgabe von
    einem ganzen Dutzend Pflegekräften und kam auch nicht be-
    trunken auf die Station. In Hounslow gab es nur wenige Wärter,
    von denen man das

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