Der Vermesser
unmöglich schien, dass sie in Wirklichkeit
noch gar nicht existierten. Das Haus in Lambeth. Ganz vorsich-
tig stellte er sich an den Fuß der Treppe, die Hand auf dem Ge-
länder, und atmete den vertrauten Geruch ein. Noch besaß er
nicht den Mut, einen Blick in die Küche zu werfen oder seinen
Sohn ausfindig zu machen. Aber er ließ seine Gedanken zu Polly
schweifen und sah ihren dicken schwangeren Bauch vor sich. Ein
unbändiges Verlangen ergriff ihn, seine Frau und sein ungebo-
renes Kind in die Arme zu schließen. Aber vielleicht war ja das
Baby schon da. Tränen stiegen in ihm auf und milderten den bit-
teren Geschmack in seinem Mund. Vielleicht war es ein Mäd-
chen. Lily Rose. Morgen, gleich in der Früh, würde er jemanden
nach dem Tag fragen. Vielleicht würde ihm Polly morgen eine
Nachricht schicken. Vielleicht würde sie sogar kommen, ihn
ohne Abscheu ansehen, die Arme ausbreiten und ihn an sich
drücken. Sie würde ihn auf die Stirn küssen, auf die Augenlider
und Handteller, so, wie sie Di küsste, wenn er auf ihrem Schoß
saß, und sie würde ihm verzeihen. Als sich William schließlich
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von dem eisigen Boden erhob, um sich unter der von Erbroche-
nem durchtränkten Decke zu wärmen, das Gesicht verkrustet,
auf der Wange Brandblasen, schimmernd wie weiße Tränen, ver-
zogen sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln.
Am Morgen kam Vickery, wie gewöhnlich fahlgelb im Gesicht
und mit dunklen Schatten unter den blutunterlaufenen Augen.
Mit großer Sorgfalt verabreichte er das Chloral, den Kopf hoch
aufgerichtet, als fürchtete er, er könne ihm hinunterfallen. Als er
an Williams Bett trat, befahl er ihm in harschem Ton aufzuste-
hen. Peake werde ihn in den Waschraum bringen, wo man ein
warmes Bad für ihn habe einlaufen lassen. Voller Angst, man
bringe ihn zur Brause, schaute William ungläubig auf die
Wanne. Sogar ein abgenutztes Stück Seife war vorhanden. Als er
sich das dreckige Hemd vom Leib riss, zuckte er zusammen. Die
Arme zu heben bereitete ihm Schmerzen. Über die rechte Seite
seiner Brust zogen sich violette Blutergüsse, und sein Gesicht
brannte, als er es mit Wasser bespritzte. Peake besah sich gleich-
gültig die Verletzungen, bevor er sich lässig an die Wand lehnte
und mit dem Zeigefinger in der Nase bohrte. Als Vickery eintrat,
war das Badewasser bereits kalt. Eilig wischte sich Peake den Fin-
ger am Hosenbein ab und nahm Haltung an. Vickery schickte
ihn weg.
»Hier«, murmelte Vickery, ohne William in die Augen zu se-
hen. »Ich dachte ... vielleicht interessiert es dich. Aber nur hier
drin. Wenn ich dich im Schlafsaal damit erwische, gibt̕s Einzel-
haft.«
Auf halbem Weg zur Tür warf er ein zerlesenes Exemplar des
Morning Herald auf den einzigen Stuhl. Die Seiten waren schon
zerrissen, die Buchstaben verschmiert. Williarn nahm die Zeitung
in die Hand. Seine Augen waren des Lesens entwöhnt, und er
musste sich zwingen, sich auf die kleine Schrift zu konzentrieren.
Zuerst sah er auf das Datum. 14. Januar 1859. Ein neues Jahr. Weih-
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nachten war vorübergegangen, ohne dass er es bemerkt hatte. Er
wurde müde und wollte das Blatt schon wieder zusammenlegen,
als ein Artikel auf Seite fünf seine Aufmerksamkeit erregte.
MÖRDER VON ERMITTLERN EINGEKREIST
Polizeibeamte, die im Zusammen-
zogen, was darauf schließen lässt,
hang mit dem Tod des Londoner
dass sie unmittelbar nach dem
Ziegeleibesitzers Alfred England
Mord im städtischen Abwassersys-
ermitteln, dessen Leiche vor zwei
tem versteckt wurde. Das Gesicht
Tagen aus der Themse geborgen
war derart entstellt, dass die Leiche
wurde, haben bestätigt, dass der
nur anhand der Initialen auf Mr.
Geschäftsmann Opfer eines Mor-
Englands Hemd und Unterwäsche
des wurde. Obwohl keine näheren
identifiziert werden konnte.
Einzelheiten genannt wurden, be-
Als Mr. England, dessen Ziege-
stätigte ein leitender Kriminalbe-
lei sich in einer schweren finan-
amter gegenüber dieser Zeitung,
ziellen Krise befand, in der Nacht
dass man Mr. England die Keh-
zum 16. Dezember ohne Vor-
le durchgeschnitten hatte. Darü-
ankündigung verschwand, nahm
ber hinaus wurden an Brust und
man zunächst an, er sei vor sei-
Schultern zahlreiche Wunden fest-
nen Gläubigern geflohen. Scot-
gestellt, die auf Gewaltanwendung
land Yard zeigte sich zuversicht-
hinweisen. Die Leiche wurde durch
lich, dass der Täter schon bald
Ratten stark in Mitleidenschaft
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