Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
zuverlässig behaupten konnte.
    William war schon über zwei Wochen in der Anstalt, als Vi-
    ckery ihm eine Zeitung brachte. Es verstieß zwar gegen die Vor-
    schriften, aber William hatte eine elende Nacht hinter sich, ge-
    quält von Träumen. Wenn ihn am Ende das Ungeheuer mit
    seiner ganzen schauerlichen Liebe als »Vater« anredete, erbrach
    er sich im Schlaf. Würgend und kaum in der Lage zu atmen,
    zwang sich William hoch, stützte sich auf einen Ellbogen und
    übergab sich erneut. Er konnte nicht mehr aufhören. Er würgte,
    bis nur noch dünne bittere Gallenflüssigkeit kam, die ihm wie
    Geifer das Kinn hinunterrann. Das Erbrochene verklebte ihm
    Haar und Backenbart und durchtränkte seine Laken. Auf dem
    Boden bildete sich eine Lache. William rief nach Wasser, leise
    zuerst, dann drängender. Im Bett neben ihm wachte der weiß-
    haarige Mann auf, begann zu wimmern und schlug mit dem
    Kopf immer und immer wieder an die Eisenstäbe seines Bettge-
    stells. Als Vickery mit zerzausten Haaren in den Schlafsaal
    stürmte, waren bereits drei oder vier der Männer wach und in
    heller Aufregung; sie fluchten, weinten oder hämmerten mit
    Fäusten an die Wand.
    »Ruhe!«
    Vickerys donnernde Stimme ließ das Gitter vor dem Fenster
    erzittern, und für einen Augenblick herrschte Stille im Raum.
    Als das Murren und Heulen wieder anhob, klang es zögerlicher,
    gedämpft von Angst. Mit seinem massigen Körper bewegte sich
    Vickery schwerfällig durch die schmalen Gänge zwischen den
    Betten, tastete nach den Handgelenken der Männer und zog die
    Baumwollgurte fester. Schließlich war William an der Reihe,

    288
    doch statt an seinen Handgelenken packte er ihn am Schopf, um
    sich sein Gesicht im Schein der Kerze zu besehen. William
    spürte, wie ihm die Flamme die Wange versengte, und versuchte
    zurückzuweichen, aber Vickery packte nur noch fester zu und
    hielt die Kerze noch näher. Der Atem des Wärters stank schal
    nach Whisky und Schlaf. Ungläubig starrte William in das
    dunkle Herz der Flamme, dann schloss er die Augen, und als die
    Hitze auf seiner Haut unerträglich wurde, schrie er auf. Flu-
    chend stieß Vickery ihn zurück, so dass William mit dem Kopf
    an die Stäbe seines Bettgestells schlug. Er sank auf seine Mat-
    ratze, und die Dunkelheit schwappte über ihm zusammen; doch
    bevor sie ihn verschlingen konnte, wurde er herausgezerrt und
    zu Boden geworfen. Ein keuchender Laut entrang sich ihm, als
    ihm ein harter Tritt in die Rippen die Luft abschnürte. Dann
    drückte eine Hand sein Gesicht fest in das Erbrochene auf dem
    Boden. Es drang ihm in Mund und Nase, er konnte nicht mehr
    atmen.
    »Willst du, dass in diesem verfluchten Irrenhaus jeder Idiot
    anfängt zu randalieren, du verdammter Unruhestifter?«, fauchte
    Vickery. »Es stinkt hier wie die Pest, aber bilde dir bloß nicht ein,
    jemand würde um diese Uhrzeit dein Bettzeug wechseln. Von
    mir aus kannst du verrecken, du elender Scheißkerl. Und wenn
    ich vor Tagesanbruch auch nur einen Muckser von dir höre,
    gibt̕s die Brause. Kapiert?«
    Die Hand drückte so fest zu, dass William sicher war, ihm
    würde die Nase gebrochen. Dann war es vorbei. Die Tür fiel ins
    Schloss. William lag am Boden, das kalte Erbrochene auf seinem
    Gesicht trocknete zu einer klebrigen Schicht. Es war eine fros-
    tige, mondlose Nacht, und im Raum herrschte tiefste Dunkel-
    heit und bittere Kälte. Williams Glieder zuckten und zitterten,
    unter seinen Rippen pochte es. Sein Kopf aber, frei von Chloral,
    war ungetrübt, und die Gedanken darin lagen da wie Fische in

    289
    gefrorenem Wasser. Er starrte sie an, beunruhigt und zugleich
    fasziniert von ihrer vollkommenen Gestalt und Klarheit. Er ver-
    langte nicht nach einer weiteren Dosis Chloral, sondern streckte
    die Hand nach ihnen aus und drehte und wendete sie. Sie zerfie-
    len nicht. Keine Ungeheuer lauerten darin, nichts Bedrohliches,
    das ihre Konturen verwischte. Es waren einfache und schlüssige,
    ganz gewöhnliche Gedanken mit einem Anfang und einem Ende
    da, wo man es erwartete. Gedanken an Gebäude vor allem, an
    Orte, die er von früher kannte. Der Laden, in dem er in seiner Ju-
    gend so viele Nachmittage verbracht hatte, mit den staubigen
    Mehlsäcken und dem Geruch der Butter in dem sich drehenden
    Fass. Die Büros in der Greek Street mit den voll gestopften Ar-
    beitsnischen. Die Kuppel und die eleganten Türme von Abbey
    Mills, deren Bild sich ihm so präzise ins Gedächtnis eingeprägt
    hatte, dass es William

Weitere Kostenlose Bücher