Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
Vom Netzwerk:
Es
    zahlte sich nicht aus, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    »Jetzt sag̕s doch endlich«, drängte der Wirt ein drittes al
    M
    und hielt mit seiner Wut kaum noch hinterm Berg.
    »Immer mit der Ruhe, mein Freund«, erwiderte Eddowes ge-
    dehnt. »Bring i
    m r noch eins, dann erfahrt ihr̕s. Aber es ist und
    bleibt ̕ne tolle Geschichte.«
    Zufrieden mit der Zunge schnalzend, stolzierte Eddowes die
    Theke entlang und stellte sich so hin, dass sein breiter Rücken
    nahezu die ganze Wärme vom Kamin beanspruchte. Tom rückte
    ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen.
    »Also.« Eddowes legte die gespreizten Hände auf die Theke
    und betrachtete sie voller Bewunderung.
    Der Wirt räusperte sich energisch, um ihn endlich zum Spre-
    chen zu bewegen. »Also?«
    Eddowes zog seine Geschichte mit Seufzen und Kopfschütteln
    in die Länge, spreizte immer wieder die Finger und wischte sich

    295
    gemächlich Stout und Leberreste vom Mund. Der Kern seiner
    Rede war folgender: Der Mörder war tatsächlich ein Gentleman,
    und wie man hörte, sogar ein piekfeiner Kerl, denn er stammte
    aus einer vornehmen Familie. Einer aus den höheren Rängen des
    Parlaments oder so. Was für ein Jammer, seufzte Eddowes glück-
    lich und schüttelte wieder den Kopf, und die anderen taten es
    ihm nach. Was für ein Jammer, wiederholten sie, wobei sie ihre
    Schadenfreude kaum verhehlen konnten.
    Als der Wirt ihnen nachgeschenkt hatte, fuhr Eddowes fort. Es
    stimme in der Tat, dieser Herr habe einen Brief geschrieben, der
    der Polizei übergeben wurde, aber er enthalte kein Geständnis,
    nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, der Mann streite alles
    ab. In dem Brief stehe nämlich – und hier legte Eddowes eine so
    großzügige Pause ein und schnalzte mehrmals bedächtig mit der
    Zunge, dass seine Zuhörer der festen Überzeugung waren, er
    wisse viel mehr, als er zu erzählen bereit war –, in dem Brief
    stehe, dass es jemand anderes gewesen sei und er, der Verrückte,
    kenne auch seinen Namen. Als die Männer nun wissen wollten,
    wen der Verrückte denn als Täter genannt habe, lächelte Ed-
    dowes geheimnisvoll wie die Sphinx und wiederholte nur, was er
    bereits erzählt hatte. Seiner Ansicht nach, und er war sich dessen
    sicher, da die Beamten, die sein Kaffeehaus besuchten, darüber
    mehr als einmal die Stirn gerunzelt und ungläubig gehüstelt hät-
    ten, hatte der Mörder sogar die Dreistigkeit besessen, in seinem
    Brief anzudeuten, er könne bei den Ermittlungen von Scotland
    Yard behilflich sein. Und warum? Weil er dabei gewesen sei. Na-
    türlich behaupte er, nichts getan zu haben, niemanden auch nur
    angerührt zu haben. Er sei unschuldig wie das Jesuskind. Aber er
    sei dabei gewesen und habe alles gehört!
    »Was? Er hat gesagt, er war dabei gewesen? Der Kerl muss ja
    vollkommen plemplem sein!«, meinte der Wirt und rollte die
    Augen.

    296
    Eddowes sah ihn mit unverhohlenem Abscheu an. Er hatte
    nicht vor, sich die Schau stehlen zu lassen. Kopfschüttelnd wie
    ein Richter, der im Begriff ist, sein Urteil zu verkünden, steckte
    er sich ein weiteres St ck
    ü
    Leber n
    i den Mund und kaute lang a
    s m,
    während er sich zufrieden den Bauch tätschelte.
    »Die Geschichte geht natürlich noch weiter. Vielleicht darf ich
    jetzt fortfahren«, meinte er schließlich und schob seinen Teller
    beiseite.
    Eilig stellte ihm der Wirt einen weiteren Krug hin – auf Kosten
    des Hauses – und entschuldigte sich für die Unterbrechung.
    »Also, weiter«, drängten die Zuhörer.
    Eddowes zögerte noch ein wenig, bis die Männer buchstäblich
    vor Neugier schäumten, dann fuhr er fort: Der feine Herr Mör-
    der sei tatsächlich ein Irrer. Er sei in einer privaten Anstalt ir-
    gendwo im Westen der Stadt untergebracht.
    »Einer Anstalt? Dann sitzt er also nicht im Kit c
    t hen?«
    »Er ist abgehaun, stimmt̕s? Er ist abgehaun, hab ich Recht?«
    Eddowes seufzte und schwieg. Ihm wurde ein Teller mit Sta-
    chelbeerkuchen gebracht, und um es ihm bequemer zu machen,
    schob man ihm einen Stuhl mit lederbezogenen Armlehnen he-
    ran. Tom rückte noch weiter vom Kamin weg, damit Eddowes in
    den vollen Genuss der Wärme kam. Schließlich ließ sich Eddowes
    herab weiterzuerzählen. Der Irre war erst ein paar Tage einge-
    sperrt gewesen, als er den Brief schrieb. Nach Eddowes Ansicht
    war das Schreiben Beweis genug, dass er verrückt war, denn die
    Ärzte würden bestimmt keinen Brief rauslassen, ohne ihn gelesen
    zu haben. So lauteten die Vorschriften.

Weitere Kostenlose Bücher