Der Vermesser
Es
zahlte sich nicht aus, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Jetzt sag̕s doch endlich«, drängte der Wirt ein drittes al
M
und hielt mit seiner Wut kaum noch hinterm Berg.
»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, erwiderte Eddowes ge-
dehnt. »Bring i
m r noch eins, dann erfahrt ihr̕s. Aber es ist und
bleibt ̕ne tolle Geschichte.«
Zufrieden mit der Zunge schnalzend, stolzierte Eddowes die
Theke entlang und stellte sich so hin, dass sein breiter Rücken
nahezu die ganze Wärme vom Kamin beanspruchte. Tom rückte
ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen.
»Also.« Eddowes legte die gespreizten Hände auf die Theke
und betrachtete sie voller Bewunderung.
Der Wirt räusperte sich energisch, um ihn endlich zum Spre-
chen zu bewegen. »Also?«
Eddowes zog seine Geschichte mit Seufzen und Kopfschütteln
in die Länge, spreizte immer wieder die Finger und wischte sich
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gemächlich Stout und Leberreste vom Mund. Der Kern seiner
Rede war folgender: Der Mörder war tatsächlich ein Gentleman,
und wie man hörte, sogar ein piekfeiner Kerl, denn er stammte
aus einer vornehmen Familie. Einer aus den höheren Rängen des
Parlaments oder so. Was für ein Jammer, seufzte Eddowes glück-
lich und schüttelte wieder den Kopf, und die anderen taten es
ihm nach. Was für ein Jammer, wiederholten sie, wobei sie ihre
Schadenfreude kaum verhehlen konnten.
Als der Wirt ihnen nachgeschenkt hatte, fuhr Eddowes fort. Es
stimme in der Tat, dieser Herr habe einen Brief geschrieben, der
der Polizei übergeben wurde, aber er enthalte kein Geständnis,
nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, der Mann streite alles
ab. In dem Brief stehe nämlich – und hier legte Eddowes eine so
großzügige Pause ein und schnalzte mehrmals bedächtig mit der
Zunge, dass seine Zuhörer der festen Überzeugung waren, er
wisse viel mehr, als er zu erzählen bereit war –, in dem Brief
stehe, dass es jemand anderes gewesen sei und er, der Verrückte,
kenne auch seinen Namen. Als die Männer nun wissen wollten,
wen der Verrückte denn als Täter genannt habe, lächelte Ed-
dowes geheimnisvoll wie die Sphinx und wiederholte nur, was er
bereits erzählt hatte. Seiner Ansicht nach, und er war sich dessen
sicher, da die Beamten, die sein Kaffeehaus besuchten, darüber
mehr als einmal die Stirn gerunzelt und ungläubig gehüstelt hät-
ten, hatte der Mörder sogar die Dreistigkeit besessen, in seinem
Brief anzudeuten, er könne bei den Ermittlungen von Scotland
Yard behilflich sein. Und warum? Weil er dabei gewesen sei. Na-
türlich behaupte er, nichts getan zu haben, niemanden auch nur
angerührt zu haben. Er sei unschuldig wie das Jesuskind. Aber er
sei dabei gewesen und habe alles gehört!
»Was? Er hat gesagt, er war dabei gewesen? Der Kerl muss ja
vollkommen plemplem sein!«, meinte der Wirt und rollte die
Augen.
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Eddowes sah ihn mit unverhohlenem Abscheu an. Er hatte
nicht vor, sich die Schau stehlen zu lassen. Kopfschüttelnd wie
ein Richter, der im Begriff ist, sein Urteil zu verkünden, steckte
er sich ein weiteres St ck
ü
Leber n
i den Mund und kaute lang a
s m,
während er sich zufrieden den Bauch tätschelte.
»Die Geschichte geht natürlich noch weiter. Vielleicht darf ich
jetzt fortfahren«, meinte er schließlich und schob seinen Teller
beiseite.
Eilig stellte ihm der Wirt einen weiteren Krug hin – auf Kosten
des Hauses – und entschuldigte sich für die Unterbrechung.
»Also, weiter«, drängten die Zuhörer.
Eddowes zögerte noch ein wenig, bis die Männer buchstäblich
vor Neugier schäumten, dann fuhr er fort: Der feine Herr Mör-
der sei tatsächlich ein Irrer. Er sei in einer privaten Anstalt ir-
gendwo im Westen der Stadt untergebracht.
»Einer Anstalt? Dann sitzt er also nicht im Kit c
t hen?«
»Er ist abgehaun, stimmt̕s? Er ist abgehaun, hab ich Recht?«
Eddowes seufzte und schwieg. Ihm wurde ein Teller mit Sta-
chelbeerkuchen gebracht, und um es ihm bequemer zu machen,
schob man ihm einen Stuhl mit lederbezogenen Armlehnen he-
ran. Tom rückte noch weiter vom Kamin weg, damit Eddowes in
den vollen Genuss der Wärme kam. Schließlich ließ sich Eddowes
herab weiterzuerzählen. Der Irre war erst ein paar Tage einge-
sperrt gewesen, als er den Brief schrieb. Nach Eddowes Ansicht
war das Schreiben Beweis genug, dass er verrückt war, denn die
Ärzte würden bestimmt keinen Brief rauslassen, ohne ihn gelesen
zu haben. So lauteten die Vorschriften.
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