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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Natürlich hatten sie den
    Brief gleich der Polizei übergeben. Danach war der Fall ziemlich
    klar. Wie sich herausstellte, war der Mann verrückter als ein gan-
    zer Hühnerstall. Denn nachdem sie entdeckt hatten, dass er seit
    Jahren mit dem Toten verfeindet war, was brauchten sie da noch
    an Beweisen? Er hatte schon monatelang im Parlament sein Un-

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    wesen getrieben, hatte die Beamten terrorisiert und all den ande-
    ren feinen Herren das Leben zur Hölle gemacht. Es hatte Beste-
    chungen gegeben, unsaubere Geschäfte, Drohungen, all das. Der
    Tote war nicht der Einzige, der darin verwickelt war, er war nur
    derjenige, dem es das Genick gebrochen hatte. Buchstäblich. Ed-
    dowes kicherte über seinen eigenen Witz, bevor er fortfuhr. Der
    Verrückte hatte einen hinterhältigen Plan ausgeheckt und sein
    Opfer in die Abwasserkanäle gelockt, wo er ihm in der Annahme,
    dass die Leiche niemals gefunden würde, die Kehle durchschnitt.
    Als man ihn verhaftete, war er über und über mit Schnittwunden
    bedeckt, Beweis für einen Kampf. Man nahm an, dass dies nicht
    sein einziger Mord war. Hier wedelte Eddowes mit den Händen,
    womit er zu verstehen gab, dass er noch einen ganzen Sack vol-
    ler geheimer Informationen besaß. Dann sprach er mit gesenkter
    Stimme weiter. Die Polizei glaubte, dass da unten, versteckt in
    den Tunneln, noch Hunderte von Leichen lägen und verrotteten,
    allesamt Opfer dieses einen Verrückten. Eddowes schüttelte den
    Kopf. Natürlich hatte man ihn aus der Anstalt geholt und ins
    Kittchen gesteckt. Er würde nach Newgate gebracht, hieß es, bis
    man ihn vor Gericht stellte. Aber der Prozess war nur noch eine
    Formalität. Der Beamte, der in sein
    f
    Ka feehaus gekommen war,
    hatte bereits davon gesprochen, dass er gehängt würde.
    »Wir nehmen selbstverständlich das Zimmer über der Woh-
    nung deines Bruders«, sagte Eddowes zum Wirt, der hastig
    nickte. »Der beste Blick im ganzen Haus, und wer das Gegenteil
    behauptet, bekommt es mit mir zu tun. Nur der Platz auf dem
    Schafott selbst ist besser.«
    »Ha, aber da binden sie dir ein Tuch um den Kopf, was die
    Sicht nicht gerade verbessert«, witzelte einer der Männer und
    stieß dabei seinen Freund in die Rippen.
    Tom leerte seinen Krug und schlich unbemerkt hinaus. Den
    langen Weg nach Hause ging er zu Fuß, doch er konnte sich das

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    alles immer noch nicht so recht zusammenreimen. Ein Gefallen
    für einen Freund, hatte der Captain gesagt. Sicher, Tom hatte ge-
    nickt, zähneknirschend und voller Abscheu, und genau gewusst,
    was er damit meinte. In den Elendsquartieren gab es überall sol-
    che Freunde. Freunde, die keinen Namen hatten, es aber immer
    wieder schafften, in Schwierigkeiten zu geraten, und dann je-
    manden brauchten, der ihnen aus der Patsche half. Leute, denen
    man keinen Pfifferling wert war, wenn es einem mal dreckig
    ging, kamen plötzlich daher, die Selbstgerechtigkeit in Person,
    und machten sich für solche »Freunde« stark. O ja, Tom hatte
    begriffen, was der Captain im Schilde führte. Nur dass die Poly-
    pen jetzt einen Schuldigen gefunden hatten. Nach allem, was
    man hörte, ein klarer Fall. Dieser Freund, für den der Captain
    sich so ins Zeug gelegt hatte, dieser Freund, der in der Klemme
    saß und für den er so viel Mitgefühl und Bedauern aufgebracht
    hatte, existierte gar nicht, ganz bestimmt nicht. Aller Wahr-
    scheinlichkeit nach nicht. Tom hatte von Anfang an gespürt, was
    für ein verschlagener Kerl dieser Captain war. Er hatte genau ge-
    wusst, dass er der Allerletzte in der ganzen Stadt war, der einem
    anderen aus reiner Herzensgüte einen Gefallen tat. Daraufhatte
    er, Tom, gebaut. Tom wollte sich absichern, das war der einzige
    Grund, warum er diesem Scheißkerl einen Gefallen getan hatte.
    Und dennoch, vielleicht hatte sich dieser elende Falschspieler
    dieses eine Mal dazu herabgelassen, Tom die Wahrheit zu sagen.
    Es schien unmöglich, und doch fand Tom keine andere Erklä-
    rung. Und er hatte seine Falle aufgestellt und einen Verrückten
    zur Strecke gebracht, während der Captain frei herumlief. Tom
    konnte die Ungerechtigkeit, die darin lag, kaum ertragen.
    Und der Scheißkerl hatte immer noch Lady. Bestimmt würde
    er am nächsten Samstag in der Bridge Tavern auftauchen, eine
    Hand auf ihrem Rücken, als gehörte sie rechtmäßig ihm, die an-
    dere Hand ausgestreckt nach dem Gewinn, der eigentlich Tom

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    zustand. Tom kuschelte sich unter seine Decke und sog die letz-
    ten Reste ihres

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