Der Vermesser
Heugeruchs ein. Nach einer Weile tastete seine
Hand zu dem leeren Platz hinter seinen Knien. Dort hatte sie
sich nachts gern zusammengerollt, dicht an seine Beine ge-
schmiegt, die Nase auf seinen Fußgelenken. Mit ihren Klauen
hatte sie kleine Schlaufen aus der rauen Wolldecke gezupft. Tom
strich darüber und stellte sich vor, er würde durch die Wolle ih-
ren Kopf spüren. In dieser Nacht fühlte er sich wie ausgehöhlt,
ein schmerzendes Loch tat sich in ihm auf. Es gab keine Linde-
rung für diesen Schmerz, weder in der Hitze des Zorns noch
in kalt klimpernden Geldmünzen. Lady hatte immer gelächelt,
wenn sie ihn sah, als wäre er für sie das Einzige auf der Welt. Tom
drehte sich auf die Seite und zog die Decke hoch bis zum Kinn.
Er musste eine andere Möglichkeit finden. Sonst hatte das alles
keinen Sinn. Ohne sie hatte alles keinen Sinn.
300
XXIV
D er für die Untersuchung des Mordes an Alfred England zu-
ständige Inspektor hatte es abgelehnt, den Raum zu betreten, in
dem William verhört werden sollte, solange dieser nicht gefes-
selt auf seinem Stuhl saß. Es könne sein, dass dieser Wahnsin-
nige während des Verhörs gewalttätig werde, und das Risiko
dürfe er nicht eingehen, hatte er gesagt und sich wie eine alte
Jungfer mit vor Abscheu verkniffenem Gesicht die Brille hoch-
geschoben. Und so ließ sich William erneut die Zwangsjacke an-
legen. Als Peake die Gurte festzurrte, fuhr ihm der Schmerz in
die lädierten Rippen, aber er biss die Zähne zusammen und Ließ
sich nichts anmerken. Ihm war flau, und der Speichel lief ihm
im Mund zusammen. Noch klang in ihm die Hochstimmung
nach, die ihn erfasst hatte, als er den Brief schrieb, die Hoff-
nung, als er ihn Peake zugesteckt hatte. Peake würde ihn zu Polly
bringen. Er würde hier rauskommen. Seine Hoffnungen waren
nicht umsonst gewesen. Es würde eine Untersuchung geben.
Man würde ihn freisprechen und sich bei ihm entschuldigen.
Natürlich musste sich die Polizei an die übliche Vorgehensweise
halten. Deshalb würde er sich auch nicht weigern, die Zwangs-
jacke anzulegen, wenn dies erforderlich war. Er würde vorbild-
lich und mit ausgesuchter Höflichkeit kooperieren. Das war
seine einzige Chance. Er würde sie nicht verspielen. Wenn das
Verhör gut verlief und er die Kriminalbeamten von der Wahr-
heit seiner Geschichte überzeugen konnte, würde er frei sein.
Seine Hände zitterten von der Anstrengung, seine Vorfreude in
Zaum zuhalten.
301
Auf Anweisung des Polizisten stellte einer der Wärter für den
Inspektor und seine beiden Begleiter einen Tisch und Stühle so-
wie an der gegenüberliegenden Wand einen niedrigeren Stuhl
für den Gefangenen bereit, so dass sich zwischen beiden Parteien
die Kluft eines leeren Raums auftat. Peake an seiner Seite, war-
tete William im Stehen und blickte stumm und unverwandt ge-
radeaus. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Aber
in seinem Kopf schwirrten und hämmerten die Gedanken, Eu-
phorie rang mit Niedergeschlagenheit, Befürchtungen rangen
mit Zuversicht – Gefühle, die seinen Speichel mit ihren starken
Aromen würzten. Doch äußerlich blieb William ruhig, mit aus-
drucksloser Miene, sein Atem – der eines Unschuldigen, eines
geistig gesunden Mannes – ging langsam und leise. Durch die
Zwangsjacke waren ihm die Hände auf den Rücken gebunden.
William bemühte sich um einen ungerührten Gesichtsausdruck,
ballte jedoch die Fäuste so fest, dass sich seine Fingernägel in die
Handflächen gruben, und versuchte mit aller Kraft den fieber-
haften Strom der Gedanken zu bändigen. Er musste einen klaren
Kopf bewahren. Einen Gedanken nach dem anderen legte er wie
beza lte Rechnungen ab.
h
Er hatte in seinem Brief die Wahrheit geschrieben. Erledigt.
Er war Zeuge eines Mordes geworden, aber er hatte ihn nicht
begangen. Erledigt.
Angst und Verwirrung hatten ihn befallen, bis er sich selbst
für verrückt hielt, ja, es sich sogar wünschte, doch er war nicht
verrückt. Erschöpft und verängstigt, aber nicht verrückt. Nicht
verrückt. Erledigt.
Er hatte i
m t Alfred England beruflich zu tun gehabt, aber er
hatte keinen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Erledigt.
In jener Nacht war in den Tunneln noch ein anderer Mann ge-
wesen. Erledigt.
Und William wusste, wer dies war. Erledigt.
302
Doch dann fing er an zu überlegen, und sofort hob der Tu-
mult in seinem Kopf wieder an. fetzt waren es nicht mehr nur
Stimmen, sondern auch
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