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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Heugeruchs ein. Nach einer Weile tastete seine
    Hand zu dem leeren Platz hinter seinen Knien. Dort hatte sie
    sich nachts gern zusammengerollt, dicht an seine Beine ge-
    schmiegt, die Nase auf seinen Fußgelenken. Mit ihren Klauen
    hatte sie kleine Schlaufen aus der rauen Wolldecke gezupft. Tom
    strich darüber und stellte sich vor, er würde durch die Wolle ih-
    ren Kopf spüren. In dieser Nacht fühlte er sich wie ausgehöhlt,
    ein schmerzendes Loch tat sich in ihm auf. Es gab keine Linde-
    rung für diesen Schmerz, weder in der Hitze des Zorns noch
    in kalt klimpernden Geldmünzen. Lady hatte immer gelächelt,
    wenn sie ihn sah, als wäre er für sie das Einzige auf der Welt. Tom
    drehte sich auf die Seite und zog die Decke hoch bis zum Kinn.
    Er musste eine andere Möglichkeit finden. Sonst hatte das alles
    keinen Sinn. Ohne sie hatte alles keinen Sinn.

    300

XXIV

    D er für die Untersuchung des Mordes an Alfred England zu-
    ständige Inspektor hatte es abgelehnt, den Raum zu betreten, in
    dem William verhört werden sollte, solange dieser nicht gefes-
    selt auf seinem Stuhl saß. Es könne sein, dass dieser Wahnsin-
    nige während des Verhörs gewalttätig werde, und das Risiko
    dürfe er nicht eingehen, hatte er gesagt und sich wie eine alte
    Jungfer mit vor Abscheu verkniffenem Gesicht die Brille hoch-
    geschoben. Und so ließ sich William erneut die Zwangsjacke an-
    legen. Als Peake die Gurte festzurrte, fuhr ihm der Schmerz in
    die lädierten Rippen, aber er biss die Zähne zusammen und Ließ
    sich nichts anmerken. Ihm war flau, und der Speichel lief ihm
    im Mund zusammen. Noch klang in ihm die Hochstimmung
    nach, die ihn erfasst hatte, als er den Brief schrieb, die Hoff-
    nung, als er ihn Peake zugesteckt hatte. Peake würde ihn zu Polly
    bringen. Er würde hier rauskommen. Seine Hoffnungen waren
    nicht umsonst gewesen. Es würde eine Untersuchung geben.
    Man würde ihn freisprechen und sich bei ihm entschuldigen.
    Natürlich musste sich die Polizei an die übliche Vorgehensweise
    halten. Deshalb würde er sich auch nicht weigern, die Zwangs-
    jacke anzulegen, wenn dies erforderlich war. Er würde vorbild-
    lich und mit ausgesuchter Höflichkeit kooperieren. Das war
    seine einzige Chance. Er würde sie nicht verspielen. Wenn das
    Verhör gut verlief und er die Kriminalbeamten von der Wahr-
    heit seiner Geschichte überzeugen konnte, würde er frei sein.
    Seine Hände zitterten von der Anstrengung, seine Vorfreude in
    Zaum zuhalten.

    301
    Auf Anweisung des Polizisten stellte einer der Wärter für den
    Inspektor und seine beiden Begleiter einen Tisch und Stühle so-
    wie an der gegenüberliegenden Wand einen niedrigeren Stuhl
    für den Gefangenen bereit, so dass sich zwischen beiden Parteien
    die Kluft eines leeren Raums auftat. Peake an seiner Seite, war-
    tete William im Stehen und blickte stumm und unverwandt ge-
    radeaus. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Aber
    in seinem Kopf schwirrten und hämmerten die Gedanken, Eu-
    phorie rang mit Niedergeschlagenheit, Befürchtungen rangen
    mit Zuversicht – Gefühle, die seinen Speichel mit ihren starken
    Aromen würzten. Doch äußerlich blieb William ruhig, mit aus-
    drucksloser Miene, sein Atem – der eines Unschuldigen, eines
    geistig gesunden Mannes – ging langsam und leise. Durch die
    Zwangsjacke waren ihm die Hände auf den Rücken gebunden.
    William bemühte sich um einen ungerührten Gesichtsausdruck,
    ballte jedoch die Fäuste so fest, dass sich seine Fingernägel in die
    Handflächen gruben, und versuchte mit aller Kraft den fieber-
    haften Strom der Gedanken zu bändigen. Er musste einen klaren
    Kopf bewahren. Einen Gedanken nach dem anderen legte er wie
    beza lte Rechnungen ab.
    h
    Er hatte in seinem Brief die Wahrheit geschrieben. Erledigt.
    Er war Zeuge eines Mordes geworden, aber er hatte ihn nicht
    begangen. Erledigt.
    Angst und Verwirrung hatten ihn befallen, bis er sich selbst
    für verrückt hielt, ja, es sich sogar wünschte, doch er war nicht
    verrückt. Erschöpft und verängstigt, aber nicht verrückt. Nicht
    verrückt. Erledigt.
    Er hatte i
    m t Alfred England beruflich zu tun gehabt, aber er
    hatte keinen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Erledigt.
    In jener Nacht war in den Tunneln noch ein anderer Mann ge-
    wesen. Erledigt.
    Und William wusste, wer dies war. Erledigt.

    302
    Doch dann fing er an zu überlegen, und sofort hob der Tu-
    mult in seinem Kopf wieder an. fetzt waren es nicht mehr nur
    Stimmen, sondern auch

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