Der Vermesser
grummelte vor sich hin, als er die Kiste mit den
Unterlagen auf den Tisch wuchtete. Die Schriftstücke, sagte er,
dokumentierten nur die alltägliche geschäftliche Korrespon-
denz, nicht wert, sie aufzubewahren. Die Informationen, die sie
enthielten, könnten von den Herren im Amt für öffentliche Bau-
vorhaben jederzeit bestätigt werden. Dennoch, es seien persön-
liche Unterlagen, und der Polizist sei nicht befugt, sie herauszu-
geben. Sie müssten am folgenden Vormittag in die Baubehörde
zurückgebracht werden.
»Ich werde das selbst erledigen«, sagte Rose und griff nach der
Kiste. »Nachdem ich sie gelesen habe.«
»Aber ... Sie können doch nicht einfach ... «
»O doch, Sie sehen ja, dass ich es kann. Ich danke Ihnen. Sie
haben mir sehr geholfen.«
Der Polizist klappte den Mund auf und wieder zu, aber er
machte keine Anstalten, Rose aufzuhalten. Der Anwalt klemmte
sich die Kiste unter den Arm. Sie war sperrig und schwer, und
er war nicht gerade kräftig gebaut. Doch als er die Treppe der
Polizeiwache hinunterstieg, ihm der Regen von der Nase tropfte
und in kalten Rinnsalen über den Rücken lief, war sein Gang un-
gewohnt leicht.
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XXVII
H äftlinge erhielten kein Chloral, und so waren die ersten zwei
Tage entsetzlich. Williams Herz raste, seine Gliedmaßen zuck-
ten und ruckten in den eisernen Fesseln. Die Zunge lag ihm
wie ein Wollknäuel in dem ausgetrockneten Mund. Wenn er
auch nur für einen Augenblick nicht auf der Hut war, suchten
ihn Schmerz und flüchtige Schreckensbilder heim, die von den
Fußsohlen heraufkrochen und ihm ihren kalten schwarzen
Atem ins Genick bliesen. In seinem Kopf kreischte und häm-
merte es. Er wagte nicht zu schlafen. Das Scharren der Ratten
im Stroh ließ ihn zusammenzucken. Die meiste Zeit saß er
vornübergebeugt da, hockte auf seinem verrosteten Eimer und
hielt sich den von Krämpfen gepeinigten Bauch, während ihm
kalter Schweiß auf der Stirn die Haare verklebte. Keiner kam,
um den Eimer zu leeren. Niemand richtete das Wort an ihn.
Seine kargen Mahlzeiten wurden ihm in einem zerbeulten
Blechnapf durch den Türverschlag gereicht. Anfangs hielt Wil-
liam es nicht aus und flehte den Wärter an, ihm eine Dosis des
Beruhigungsmittels zu geben, aber er erhielt keine Antwort. Die
Klappe öffnete sich, sein Essen wurde hereingeschoben, dann
schloss sich die Klappe wieder. Sobald William versuchte, etwas
zu sagen, wurde sie mit einem lauten Knall zugeschlagen. Die-
ses Ritual wiederholte sich dreimal am Tag. Das Essen bestand
meist aus hartem Brot und einer dünnen, faden Suppe, aber
William wartete stets begierig darauf, nicht weil er Hunger
hatte, sondern weil die ihm inzwischen vertraute, schmutzige
Hand mit dem Napf ein tröstlicher Anblick war. In den ersten
333
Tagen blieb dies sein einziger Kontakt mit einem anderen
menschlichen Wesen.
Am dritten oder vierten Tag hatte ihn das Klirren der Ketten
geweckt, als ein Häftling aus seiner Zelle geführt wurde. Es
musste früher Morgen sein. William hatte wohl mehrere Stun-
den geschlafen. Sein Kopf war klar, und der pochende Kopf-
schmerz nur noch ein leichter Druck hinter den Augen. Wenn er
sich nicht bewegte, konnte er sich fast einbilden, er sei ganz ver-
schwunden. Sein Herzschlag ging ruhig und gleichmäßig. Er
hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie zitterten nicht mehr. Vor-
sichtig holte er tief Luft. Der Gestank aus dem Eimer verursachte
ihm Übelkeit. Als sein Frühstück kam, rief William dem Wärter
zu, er solle den Kotkübel ausleeren. Die Türklappe fiel krachend
zu. Eine Stunde später wurde sie erneut geöffnet, und die ver-
traute derbe Hand, die abgebrochenen Fingernägel schwarz um-
randet, entriegelte die Eisenklappe. William hob den Kopf von
den Kni n.
e
»Du hast Besuch.«
Polly, durchfuhr es William, und der Gedanke flammte in sei-
ner Brust auf wie ein scharlachrotes Feuerwerk. Wie verzehrte er
sich nach dem Klang ihrer süßen Stimme. Doch dann vernahm
er die zaghafte Stimme eines jungen Mannes und sah durch den
Schlitz eine andere Hand, die sauber war, jedoch rot und rau
und knochig. Sydney Rose. Sein ihm von der Krone zur Verfü-
gung gestellter Anwalt.
»Dann wünsch ich mal viel Glück«, hörte er den Wärter mur-
meln, der leise lachend verschwand. »Können Sie bestimmt ge-
brauchen.«
An jenem Nachmittag, als der Anwalt zum ersten Mal erschie-
nen war, hatte William geredet, bis er heiser war. Der Anwalt
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