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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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er-
    schien ihm sehr tüchtig. Aber nachdem er gegangen war, fühlte
    sich William wie ausgepumpt. Hundeelend. Und voller Angst.

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    Er hatte noch nie Angst gehabt. Die Irrenanstalt, das Gefängnis,
    selbst der Galgen schreckten ihn nicht. Seine Furcht galt allein
    ihm selbst und dem, wozu er fähig war. Er hatte geglaubt, er sei
    verrückt. Er hatte gewusst, dass er verrückt war. In ihm hauste
    ein Dämon, der sich in die dunkelsten Winkel seines Herzens
    verkrochen, sein Blut vergiftet, ihm Augen und Ohren versiegelt
    und ihm die Hände geraubt hatte, um in seinem, Williams, Na-
    men Verbrechen unerträglichen Grauens zu verüben. Er hatte
    die Gewissheit in den Augen anderer gesehen – der Polizeibeam-
    ten und Ärzte und auch des Anwalts hinter seiner eisernen
    Maske. Sie alle starrten ihn an, und Abscheu, moralische Entrüs-
    tung und Faszination standen ihnen ins Gesicht geschrieben
    und ließen ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Keiner
    von ihnen hegte Zweifel daran, dass er Alfred England ermordet
    hatte.
    Angekettet in seiner Zelle, schrie sein ganzer Körper nach
    Chloral. William hatte sich verzweifelt bemüht, die schwanken-
    den und schwitzenden Ruinen seiner Gedanken zu glätten, aber
    sie entglitten ihm und zerbröselten ihm zwischen den Fingern.
    Die Erinnerungen würden zurückkehren, sagte er sich immer
    wieder und beschwor sich, daran zu glauben. Wenn er einen
    Menschen getötet hätte, würde er sich doch daran erinnern. In
    Inkerman hatte er einen Mann, sogar zwei Männer umgebracht.
    Die Russen hatten sich im dichten Nebel an sein Zelt herange-
    schlichen und ihre Bajonette durch die Zeltwand gestoßen. Der
    Ingenieur neben ihm war mit einer Klinge im Hals aufgewacht.
    Schlaftrunken war William in der Unterwäsche hinausgetorkelt
    und hatte einem russischen Soldaten, der am Boden kauerte, um
    seine Muskete zu laden, das Bajonett zwischen die Schulterblät-
    ter gestoßen. Später, viel später hatte er noch einen Mann getö-
    tet, aber da hatte das blutige Gemetzel des Kriegs bereits alles bis
    zur Unkenntlichkeit verzerrt, so dass das Töten fast schon alltäg-

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    lich erschien. Beim ersten Mal war es anders gewesen. William
    erinnerte sich noch genau an jede Einzelheit. An den Ruck in
    seinen Schultern, als er das Bajonett hob, den dumpfen Schlag,
    als er es dem Mann durch den grauen Soldatenmantel stieß, den
    zuckenden Rücken des Mannes, das Gurgeln in seinem Hals, die
    Kraft, die es kostete, die Klinge wieder herauszuziehen, und das
    Blut, das wie eine Blume auf dem groben Stoff erblühte, wäh-
    rend der Russe in den Schlamm sank, das schmale, gewöhnliche
    Gesicht vor Erstaunen verzerrt, die schrundigen Lippen geöff-
    net. Er sah nicht anders aus als Tausende britische Soldaten.
    William hatte sich übergeben müssen, voller Hast, während er
    sich bückte, um die Klinge seines Bajonetts an einem Grasbü-
    schel abzuwischen. Um ihn herum Schreie und Flüche – Geräu-
    sche, die durch den Nebel zu ihm drangen. Blindwütig hatte
    William dem Mann sein Bajonett immer und immer wieder in
    die Brust gestoßen. Blut rann zwischen seinen Fingern. Als er
    jetzt daran dachte, drehte sich ihm der Magen um, und er grub
    die Fingernägel tief in die Handteller, um die Bilder aus seinem
    Kopf zu verbannen. Er konnte England nicht getötet haben, be-
    sc
    o
    hw r e
    r sich immer und immer wieder. Er würde sich daran
    erinnern.
    An dem Tag, als der Anwalt kam, lagen seine Gedanken zum
    ersten Mal klar und deutlich vor ihm, ohne dass sie ihm zwi-
    schen den Fingern zerrannen. Zart wie sie waren, behielten sie
    dennoch ihre Form und trugen die zaghaften Konturen von
    einer Art Gewissheit. In der Irrenanstalt hatte das Chloral seine
    Sinne gedämpft, seine Gedanken und seinen Appetit unter-
    drückt. Jetzt krampfte sich ihm vor Hunger der Magen zusam-
    men, doch dadurch erwachte sein betäubtes Gehirn und ließ
    Licht herein. Und damit auch die Angst. Zum ersten Mal, seit
    man ihn auf das Schiff gebracht hatte, wusste er, dass er nicht
    sterben wollte. Er sehnte sich danach, sich frei und ungehindert

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    zu bewegen, saubere Luft zu atmen und sich den verkrusteten
    Dreck vom Gesicht zu waschen. Er dachte an Polly und seinen
    kleinen Sohn, und in seiner Sehnsucht verdrehte er die Ketten an
    Händen und Füßen, so dass ihm die Fesseln mit ihren harten
    Kanten an den Schienbeinen und Handgelenken in die Haut
    schnitten. Das Metall war zwar zu stumpf, um blutige Wunden
    hervorzurufen,

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