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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Skizzenbuch aus der Jackentasche zog, um ihm seine
    Zeichnungen der Spiranthes autumnalis, Herbstdrehwurz oder
    auch Damenzopf, zu zeigen, die Polly wegen ihres Namens be-
    sonders gern mochte, hielt der Arzt nur kurz inne, bevor er eine
    letzte Bemerkung in sein Notizbuch kritzelte.
    »Sehr gut, Mr. May. Sehr gut«, sagte der Arzt strahlend und
    klappte das Buch zu. »Wie schön, einem Gleichgesinnten zu be-
    gegnen. Ich denke, damit sind wir fertig.« Mit einem Lächeln auf
    den allen
    dr
    Wangen öffnete er die Tür. »Kommen Sie wieder he-
    rein, Mr. Lovick.«
    Von draußen hörte man ein Gemurmel, bevor Lovick den
    Raum betrat.
    »Haben Sie alles, was Sie br uch
    a
    n?«,
    e
    wollte Lovick mit einem
    Blick auf William wissen.
    »Ganz gewiss«, versicherte ihm der Arzt und nickte freudig
    dazu.

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    »Ausgezeichnet.« Lovick lächelte. »In diesem Fall, glaube ich,
    brauchen wir Sie nicht mehr länger aufzuhalten, Mr. May.«
    William wandte den Blick zum Arzt, dann zu Lovick, dann
    wieder zum Arzt. »Das ist alles?«
    »Das ist alles. Sofern Dr. Feather nicht noch mehr ...?«
    Der Arzt schüttelte den Kopf und faltete die Hände über dem
    Bauch.
    »Dann sind wir fertig. Zurück an die Arbeit, wenn ich bitten
    darf«, tadelte Lovick sanft. »In diesen Zeiten können wir es uns
    nicht leisten, auch nur eine Minute zu verlieren.«
    Kurz vor Mittag kam Lovick zu William, um ihn um einige
    Unterlagen zu bitten. Die Befragung durch den Arzt erwähnte er
    mit keinem Wort, aber als William in seiner Aktenmappe wühlte,
    legte ihm Lovick kurz die Hand auf die Schulter. Dann ging er.
    William war wieder allein.
    Es war vorbei. Jetzt konnte Hawke ihm nichts mehr anhaben.
    Dieser düstere Dezembertag, der ihm den Untergang hätte brin-
    gen sollen, hatte ihn stattdessen rehabilitiert. Er war von einem
    Arzt untersucht worden, einem Fachmann für Nervenleiden, für –
    um es unverblümt zu sagen – Geisteskrankheiten, und für gesund
    befunden worden. Das stand außer Frage. Die Diagnose würde
    bestätigt werden, dokumentiert, unterzeichnet und aktenkundig
    gemacht. Irgendwo und für immer würde es ein Schriftstück ge-
    ben, das diesen Befund unparteiisch und kategorisch bescheini-
    gen würde. William May war geistig gesund. Er war gesund, und
    es konnte ihm nichts passieren. Und seiner Familie auch nicht.
    Der Albtraum, der vor mehr als vier Jahren an einem trüben
    Novembermorgen in der Türkei begonnen hatte, war vorüber.
    Er war gesund.
    Irgendwo tief in seinem Innern herrschte Erleichterung, ja so-
    gar Freude, dessen war er sicher, aber in dem dünnen grauen
    Licht des schneeverhangenen Nachmittags fühlte er sich nur

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    benommen und erschöpft. Wie im unablässigen Wechsel von
    Ebbe und Flut strömte eine Woge von Schreibern und Doku-
    menten in seine Arbeitsnische und wieder hinaus, zerrte unge-
    duldig an ihm und ließ ihn umherwirbeln wie einen Kieselstein.
    Er sehnte sich danach, hinauszukönnen. Er sehnte sich nach den
    Tunneln, nach der sanften Umarmung der Dunkelheit, aber
    wenn er jetzt das Büro verließe, würde man sein Fehlen bemer-
    ken. Es gab zu viel Arbeit, die erledigt werden musste. Und
    außerdem, sagte er sich, war sein Impuls, die Tunnel als ein
    Refugium zu betrachten, reine Gewohnheit, eine schädliche und
    unvernünftige Gewohnheit, die er besser aufgeben sollte. Er
    brauchte keine Zufluchtsstätte mehr. Er war schließlich gesund,
    oder etwa nicht? Er war gesund. Die Messungen, die er für seine
    Berechnungen brauchte, würden erst in einigen Tagen benötigt.
    Er würde warten. Es war klüger zu warten. Der Nachmittag
    wurde langsam dämmerig, und immer noch marschierte durch
    seine Nische die Parade der Hauptbücher, in ihrem Schlepptau
    die Schreiber, angebunden mit lederummantelten Ketten, die an
    ihren Gürteln hingen. Von Zeit zu Zeit griff William in seine Ja-
    ckentasche, um über den Ledereinband seines Skizzenbuchs zu
    streichen. Der Einband war warm und sanft wie eine Wange.
    Kurz nach sechs Uhr brachte ihm ein Junge Suppe in einer
    Emailschüssel. William hob den Teller, mit der sie zugedeckt
    war, und roch. Sie duftete köstlich, kräftig und fleischig. Das
    Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er hatte den ganzen Tag
    noch nichts gegessen.
    »Mr. Lovick hat mich geschickt, Sir«, sagte der Junge strah-
    lend und zog aus seiner Tasche einen in Papier eingeschlagenen
    Kanten Brot mit Käse. »Weil Sie so lange arbeiten und so.«
    William verzehrte das Mahl dankbar und

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