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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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kaltem, schwarzem Speichel. Sie legte sich ihm auf die
    Augen, so dass er den Hof nur mehr als einen schmalen, fahlen
    Lichtstreifen wahrnahm. »Das ist kein Scherz. Ich bring dich
    um.«
    Ein Zündholz flammte auf und leuchtete orangefarben in
    dem beschatteten Torweg. William schnellte herum. Er spürte
    ihn mehr, als dass er ihn sah, den Mann, der sie beide beobach-
    tete. Der Rauch seiner Zigarette kräuselte sich um seine Hut-
    krempe und stieg auf in die dunkle Nacht. Also ein Türke? Der
    Mann rührte sich nicht. Das durfte man auch nicht, nicht bis die
    nächste Wache nah genug war, um sich ihrer Unterstützung si-
    cher zu sein. In diesem Punkt waren die Befehle klar. Es gab be-
    stimmte Worte, die man sagen musste. William spürte, wie ihn
    Panik erfasste. Er konnte sich nicht mehr an diese Worte erin-
    nern. Verzweifelt wühlte er sich durch die Schwärze in seinem
    Kopf, aber er konnte sich nicht mehr an diese Worte erinnern.
    »Um Himmels willen, Mann«, stöhnte England erneut auf
    und tastete mit einer Hand in Richtung des Schattens. »Schnapp
    dir den Dreckskerl!«

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    William rannte los. Er rannte stolpernd durch den Schnee,
    rannte auf wackligen, zittrigen Beinen über die gefrorenen
    Schlammfurchen, durch Gassen und Höfe, hinein in einen Licht-
    schein und wieder hinaus. Er spürte nichts als den Schmerz der
    eisigen Luft in der Brust, das mühsame Pochen seines Herzens,
    das Gewicht seiner Beine – und die Schwärze. Die Schwärze hielt
    ihn fest umklammert, die Schwärze, die dick war und undurch-
    dringlich, aber gestaltlos wie die nächtliche Finsternis. Wohin er
    auch lief, überall spürte er die Augen auf sich gerichtet, heiß
    wie glühende Kohlen. Sie folgten ihm erbarmungslos, aber auch
    blind, und konnten nicht begreifen, was sie sahen. William wusste
    das, und so saß er gleichzeitig in der Falle und war doch vollkom-
    men frei. Er musste nur laufen. Und so lief er immer weiter.
    Als er stehen blieb, befand er sich im Untergrund. Es kam ihm
    nicht in den Sinn, sich zu fragen, wie er dorthin gekommen oder
    wie lange er schon dort war. Die Flut stieg, und er hatte keine
    Laterne, aber er achtete nicht auf den eisigen Strom von Exkre-
    menten, der seine Beine umwogte, in die gewienerten Stiefel
    drang und am Wollstoff seiner besten Hose zerrte. Er spürte nur
    das verzweifelte, betäubende Bedürfnis, sich zu schneiden. Seine
    rechte Hand ballte sich in der Finsternis, jede Muskelfaser seiner
    Finger bis zu den Handgelenken schrie nach der vertrauten Ge-
    walt des Messers. Das sengende Verlangen überfiel ihn wie eine
    ungeheure, mörderische Armee, die ihm ein grausames Batail-
    lon nach dem anderen in den Schädel und zwischen die Rippen
    trieb, um ihn zu zerfetzen und ihm das Mark aus den Knochen
    zu reißen. Jeder Zoll seiner Haut prickelte vor Verlangen, jedes
    winzige Härchen glühte, als stünde es in Flammen. Mit ihren
    Bajonetten stießen sie ihm jeden seiner flachen Atemzüge in die
    Kehle zurück, als er mit eiskalten Füßen, die auf dem maroden
    Untergrund kaum Halt fanden, immer tiefer in die Dunkelheit
    glitt und stolperte.

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    Er war nun schon ganz nah, das wusste er, auch wenn er nichts
    sehen konnte. Das Verlangen wurde unbändig, zog ihm die Haut
    von Herz und Lunge, bis jeder Atemzug zur Qual wurde und die
    Brust bebte wie eine Granate kurz vor der Explosion. Es herrschte
    eine so vollkommene Dunkelheit, dass er nicht einmal mehr die
    eigenen Hände sehen konnte. William schloss die Augen, presste
    sie fest zusammen. Mit einem Schlag kippte der Tunnelboden
    unter ihm weg. Er war fast am Ziel. Vornübergebeugt, steif und
    schwerfallig vor Kälte, tastete er verzweifelt die schleimigen
    Wände ab. Sein ganzer Körper schrie, sein fauliges Blut eine dick-
    flüssige schwarze Säure, die ihm Fleisch und Knochen wegätzte.
    Er spürte seine Füße nicht mehr, rang nach Luft, stolperte und
    wäre beinahe gestürzt. Als er sich abstützte, schlug er mit den
    Knöcheln an die rauen Kanten seines Schlupfwinkels im Mauer-
    werk. Er hatte die Stelle gefunden.
    Das brennende Verlangen gellte ihm in den Ohren, während er
    in fliegender Hast die Wand nach dem losen Backstein absuchte
    und sich die Finger an dem scharfen Mörtel aufriss. Endlich gab
    etwas nach. Die Sekunden, die es dauerte, den Stein herauszuzie-
    hen, waren unerträglich. Er schleuderte den Backstein in den
    Tunnel, mit der anderen Hand packte er das Messer. Ein Aufplat-
    schen, gefolgt von einem leisen

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