Der Vermesser
Lei-
chen entdeckt w
«
urden? , wollte atemlos ein Gentleman wissen
und leckte sich dabei die Lippen.
»Die meisten werden nie entdeckt«, erwiderte Tom seelenru-
hig. »In den Tunneln gibt es Tausende Verstecke, Sir, wenn man
sich auskennt. Stellen, wo man eine Leiche so verbergen kann,
dass keiner sie findet. Wenn Sie mal dort runtersteigen, werden
Sie sehen, dass in den Löchern des Mauerwerks überall Knochen
stecken und was sonst noch alles, was nie wieder auftaucht.«
»Gütiger Himmel«, meinte der feine Herr. »Und das alles di-
rekt unter unseren Füßen. Das ist ja schlimmer als die Schrecken
155
der Hölle.« Er schüttelte sich in wohligem Abscheu und ließ eine
Münze in Toms ausgestreckte Hand fallen.
Tom nickte. Weshalb hätte er erwähnen sollen, dass bei den
seltenen Gelegenheiten, wenn er oder der Rote Joe im Tunnel auf
eine Leiche stießen, sie sofort die Flussfischer benachrichtigten,
die die Leiche in Rotherhithe ans Ufer brachten, weil es dort
für einen solchen Fund mehr Belohnung gab als sonst wo in der
Stadt. Tom schätzte, dass die Gentlemen so etwas wohl weniger
gern hören würden.
Als Toms grausige Fantasien schließlich erschöpft waren und
der Alkohol die Zungen der Männer immer schwerer und ihre
Trinkgelder immer schmaler werden ließ, machte er sich mit den
Münzen, die in seiner Tasche eine feine Melodie anstimmten,
auf den Nachhauseweg. Stets war es für ihn ein kleines Vergnü-
gen, wenn er die Tür zu seiner Unterkunft öffnete und Lady dort
auf der Decke liegen sah. Die Hündin ihrerseits schien sich kei-
neswegs so sicher zu sein, ob es ihr Freude bereitete, Tom wie-
derzusehen. Ihre Augen waren so rosa, und sie warf einen so
matten Blick über die Schulter, dass man fast meinte, sie würde
weinen, und oft stahl sie sich von ihm fort und legte sich auf die
morschen Dielen, als wollte sie seiner Berührung ausweichen.
Selbst wenn er sie in die Arme nahm, drehte sie den Kopf von
ihm weg und reckte die Schnauze in die Luft wie eine Gans, um
ihm zu zeigen, dass sie ihm gram war.
Und dann, ganz plötzlich, spielte sie nicht weiter die Belei-
digte, sondern legte das Kinn auf seine Schulter, so dass ihn ihre
Spürhaare am Ohr kitzelten und der zerkaute Stummelschwanz
gegen sein Bein trommelte. Er hielt sie fest an die Brust ge-
drückt, bis der Schlag ihrer beider Herzen den gleichen Rhyth-
mus fand und zu einem einzigen wurde.
156
XI
D rei Tage bevor der Vertrag mit Strowbridge unterzeichnet und
der Baubehörde zur Genehmigung vorgelegt werden sollte und
nur neun Tage vor Weihnachten wurde William zu Lovick be-
stellt. Es war kurz nach zehn Uhr morgens. Draußen schneite es,
die schmutzigen Flocken lösten sich vom Nebel wie abblätternde
alte Farbe. Eine Weile starrte William auf die dünne Holzwand
seiner Arbeitsnische, unfähig, sich zu bewegen. Einige Wochen
zuvor hatte er einen Artikel aus The Builder daran geheftet und
dessen Schlusssatz mit schwarzer Tinte unterstrichen. Auf Gedeih und Verderb hat die Hauptstadt ein Unternehmen von unvergleichlicher Größe in Angriff genommen. Jeden Tag, wenn er sich an den Schreibtisch setzte und diese Worte las, durchströmte ihn
ein stiller Stolz bis zu den Fußsohlen. Jetzt aber verschwammen
die Buchstaben vor seinen Augen. Langsam, mit zitternden
Knien, stand er auf und machte sich, die Hände in den Taschen
vergraben, auf den Weg durch das vertraute Labyrinth von Räu-
men zu Lovicks großem Büro. Trotz des Feuers, das in den Ka-
minen knisterte, war es kalt in den schmalen Zimmern, und die
Luft kam ihm dünn vor wie auf einem hohen Berg, so dass er nur
flach und mühsam atmen konnte. Voller Wehmut blickte er auf
die unordentlichen Papierstapel ringsum, die auf den Schreib-
tisch gesenkten Köpfe, e
di umherhastenden Schreiber und Bo-
ten. Diese Räume würde er nie wieder betreten.
Als William schließlich eingelassen wurde, war Lovick nicht
allein. In seiner Gesellschaft befand sich ein kleiner, stämmiger
Herr mit rundem, rosigem Gesicht und einer rosa schimmern-
157
den Glatze, die von einem feinen Haarflaum umkränzt wurde.
In diesem kindlich wirkenden Gesicht sah seine Nickelbrille aus,
als hätte er sie sich von einem netten Onkel erbettelt.
»Ah, May.« Lovick hüstelte. Offen i
s chtlich war ihm die Situa-
tion peinlich. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.«
William nahm Platz und starrte auf seine Knie. Nun, da er
hier war, wollte er das
Weitere Kostenlose Bücher