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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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Lei-
    chen entdeckt w
    «
    urden? , wollte atemlos ein Gentleman wissen
    und leckte sich dabei die Lippen.
    »Die meisten werden nie entdeckt«, erwiderte Tom seelenru-
    hig. »In den Tunneln gibt es Tausende Verstecke, Sir, wenn man
    sich auskennt. Stellen, wo man eine Leiche so verbergen kann,
    dass keiner sie findet. Wenn Sie mal dort runtersteigen, werden
    Sie sehen, dass in den Löchern des Mauerwerks überall Knochen
    stecken und was sonst noch alles, was nie wieder auftaucht.«
    »Gütiger Himmel«, meinte der feine Herr. »Und das alles di-
    rekt unter unseren Füßen. Das ist ja schlimmer als die Schrecken

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    der Hölle.« Er schüttelte sich in wohligem Abscheu und ließ eine
    Münze in Toms ausgestreckte Hand fallen.
    Tom nickte. Weshalb hätte er erwähnen sollen, dass bei den
    seltenen Gelegenheiten, wenn er oder der Rote Joe im Tunnel auf
    eine Leiche stießen, sie sofort die Flussfischer benachrichtigten,
    die die Leiche in Rotherhithe ans Ufer brachten, weil es dort
    für einen solchen Fund mehr Belohnung gab als sonst wo in der
    Stadt. Tom schätzte, dass die Gentlemen so etwas wohl weniger
    gern hören würden.
    Als Toms grausige Fantasien schließlich erschöpft waren und
    der Alkohol die Zungen der Männer immer schwerer und ihre
    Trinkgelder immer schmaler werden ließ, machte er sich mit den
    Münzen, die in seiner Tasche eine feine Melodie anstimmten,
    auf den Nachhauseweg. Stets war es für ihn ein kleines Vergnü-
    gen, wenn er die Tür zu seiner Unterkunft öffnete und Lady dort
    auf der Decke liegen sah. Die Hündin ihrerseits schien sich kei-
    neswegs so sicher zu sein, ob es ihr Freude bereitete, Tom wie-
    derzusehen. Ihre Augen waren so rosa, und sie warf einen so
    matten Blick über die Schulter, dass man fast meinte, sie würde
    weinen, und oft stahl sie sich von ihm fort und legte sich auf die
    morschen Dielen, als wollte sie seiner Berührung ausweichen.
    Selbst wenn er sie in die Arme nahm, drehte sie den Kopf von
    ihm weg und reckte die Schnauze in die Luft wie eine Gans, um
    ihm zu zeigen, dass sie ihm gram war.
    Und dann, ganz plötzlich, spielte sie nicht weiter die Belei-
    digte, sondern legte das Kinn auf seine Schulter, so dass ihn ihre
    Spürhaare am Ohr kitzelten und der zerkaute Stummelschwanz
    gegen sein Bein trommelte. Er hielt sie fest an die Brust ge-
    drückt, bis der Schlag ihrer beider Herzen den gleichen Rhyth-
    mus fand und zu einem einzigen wurde.

    156

XI

    D rei Tage bevor der Vertrag mit Strowbridge unterzeichnet und
    der Baubehörde zur Genehmigung vorgelegt werden sollte und
    nur neun Tage vor Weihnachten wurde William zu Lovick be-
    stellt. Es war kurz nach zehn Uhr morgens. Draußen schneite es,
    die schmutzigen Flocken lösten sich vom Nebel wie abblätternde
    alte Farbe. Eine Weile starrte William auf die dünne Holzwand
    seiner Arbeitsnische, unfähig, sich zu bewegen. Einige Wochen
    zuvor hatte er einen Artikel aus The Builder daran geheftet und
    dessen Schlusssatz mit schwarzer Tinte unterstrichen. Auf Gedeih und Verderb hat die Hauptstadt ein Unternehmen von unvergleichlicher Größe in Angriff genommen. Jeden Tag, wenn er sich an den Schreibtisch setzte und diese Worte las, durchströmte ihn
    ein stiller Stolz bis zu den Fußsohlen. Jetzt aber verschwammen
    die Buchstaben vor seinen Augen. Langsam, mit zitternden
    Knien, stand er auf und machte sich, die Hände in den Taschen
    vergraben, auf den Weg durch das vertraute Labyrinth von Räu-
    men zu Lovicks großem Büro. Trotz des Feuers, das in den Ka-
    minen knisterte, war es kalt in den schmalen Zimmern, und die
    Luft kam ihm dünn vor wie auf einem hohen Berg, so dass er nur
    flach und mühsam atmen konnte. Voller Wehmut blickte er auf
    die unordentlichen Papierstapel ringsum, die auf den Schreib-
    tisch gesenkten Köpfe, e
    di umherhastenden Schreiber und Bo-
    ten. Diese Räume würde er nie wieder betreten.
    Als William schließlich eingelassen wurde, war Lovick nicht
    allein. In seiner Gesellschaft befand sich ein kleiner, stämmiger
    Herr mit rundem, rosigem Gesicht und einer rosa schimmern-

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    den Glatze, die von einem feinen Haarflaum umkränzt wurde.
    In diesem kindlich wirkenden Gesicht sah seine Nickelbrille aus,
    als hätte er sie sich von einem netten Onkel erbettelt.
    »Ah, May.« Lovick hüstelte. Offen i
    s chtlich war ihm die Situa-
    tion peinlich. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich.«
    William nahm Platz und starrte auf seine Knie. Nun, da er
    hier war, wollte er das

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