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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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wischte sich die Fin-
    ger sorgfältig mit dem Taschentuch sauber, um auf den Unterla-
    gen keine Fettflecken zu hinterlassen. Als er schließlich das Licht

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    löschte, war es fast acht. In der Greek Street peitschte ihm ein
    böser Wind ins Gesicht und ließ seine Hosenaufschläge flat-
    tern. Zwar hatte es aufgehört zu schneien, doch die Straßen, die
    tagsüber durch das geschäftige Hin-und-her-Eilen der Passanten
    aufgeweicht und zerfurcht worden waren, begannen jetzt wieder
    zu vereisen und waren tückisch. Vorsichtig tastete sich William
    durch die Princes Street. Vor Erschöpfung war ihm ganz schwin-
    delig. Kutschen tauchten wie aus dem Nichts aus der gelblichen
    Dunkelheit auf, das Rasseln ihrer Räder drang gedämpft durch
    den Schneeteppich, und die blassen Kugeln der Gaslaternen
    zitterten auf ihren Eisenmasten wie Löwenzahnköpfchen. Die
    Straßen waren leer, und die wenigen Menschen, denen William
    begegnete, duckten sich in ihre Mantelkragen. William sehnte
    sich danach, endlich zu Hause zu sein. Als er einen schmalen
    Hof Richtung Fluss durchquerte, rutschte er auf dem gefrorenen
    Schlamm au
    s und wäre gestürzt, hätte ihn nicht ein Mann am
    Arm gepackt und festgehalten.
    »Mr. May.«
    Eine leise, heisere Stimme. Verblüfft wandte sich William zu
    dem Fremden um. Er trug einen Pelzhut, den er sich tief über die
    Ohren gezogen hatte, und sein Atem hüllte seinen Backenbart in
    Dampfwölkchen.
    »Mr. England?«
    »Das alles war ein Versehen. Ein Missverständnis. Der Ver-
    trag ...«
    William schüttelte den Kopf. In dem düsteren Torweg war ein
    Scharren zu hören. Vorsichtshalber legte William die Hände auf
    die Taschen, in denen sich seine Geldbörse und sein Taschentuch
    befanden. Das Viertel war berüchtigt für seine Diebe.
    »Mr. England, es war kein Missverständnis. Ich habe meine
    Position klar dargelegt. Die Sache ist erledigt.«
    So energisch, wie es der vereiste Pfad erlaubte, machte sich

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    William daran weiterzugehen, doch England packte ihn am
    Handgelenk. Sein Griff w r so fest, das
    a
    es sch
    s
    merzte.
    »O nein, das ist sie nicht, Mr. May. Keineswegs.«
    »Es hat keinen Sinn, mich unter Druck zu setzen, Mr. Eng-
    land. Die Baubehörde wird Ihr Angebot nicht berücksichtigen.
    Nichts, was Sie sagen oder tun, kann daran etwas ändern.«
    »Nein?«
    »Lassen Sie meinen Arm los«, sagte William frostig. »Oder ich
    rufe nach der Polizei.«
    »Hier?« England drehte William den Arm auf den Rücken. »Es
    heißt, Abwasserkanäle sind lebensgefährliche Orte. Die Flut kann
    ganz unerwartet hereinströmen. Dort unten in der Dunkelheit
    erwischt es den Mann, noch ehe er einen Gedanken darauf ver-
    schwenden kann. Die Flut schleudert ihn so brutal an die Mauer,
    dass es aus ist mit ihm und danach nicht mal mehr die eigene
    Mutter diesen Scheißkerl wiedererkennt. So hat man mir er-
    zählt.«
    »Sie können mich nicht einschüchtern, Mr. England.«
    »Dann sind Sie also ein noch größerer Narr, als es den An-
    schein hat. Sie haben doch ein kleines Kind, stimmt̕s, Mr. May?
    Einen Jungen, richtig? Schrecklich, wenn ihm etwas zustoßen
    würde.«
    »Nehmen Sie Ihre Hände von mir!«
    »Sie können doch nicht den ganzen Tag auf Ihre Familie auf-
    passen, stimmt̕s? Und in London geschehen schreckliche Un-
    fälle.«
    Da zersprang die gläserne Taubheit in Williams Schädel, und
    die Schwärze überflutete ihn. Mit aller Kraft, die er aufbringen
    konnte, stieß er mit dem Kopf nach hinten in Englands Gesicht.
    Ein dumpfes Knirschen war zu hören. England stöhnte auf, und
    zurücktaumelnd ließ er Williams Arm los, um sich das Gesicht
    zu halten. Blut rann ihm durch die Finger und tropfte in den

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    schmutzigen Schnee, die Augen waren vor Schreck weit aufgeris-
    sen. Er blickte um sich, als suchte er jemanden. William wirbelte
    herum, Schwärze flutete ihm durch die Brust. England wollte
    sich auf ihn stürzen, aber William war schneller. Die Schwärze
    raste ihm durch Arme und Beine. Er schlug kräftig mit der Faust
    in den blutigen Klumpen von Englands Nase, worauf der Fabri-
    kant wankte und mit dem Kopf gegen die Ziegelmauer prallte.
    Als er zusammensank, trat William ihm in den Magen.
    »Wo bist d ?«,
    u
    wimmerte England. »So hilf mir d ch,
    o
    um
    Himmels willen!«
    »Solltest du meiner Familie zu nahe kommen, bring ich dich
    um«, fauchte William. Die Schwärze drang ihm nun in Nase,
    Kehle und Ohren. Sie pochte ihm in den Schläfen und füllte den
    Mund mit

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