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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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er achtete darauf, dass der andere seine
    Anwesenheit registrierte. Dabei war es keineswegs so, dass Tom
    etwas sagte oder tat, um gezielt Aufmerksamkeit auf sich zu len-
    ken. Fürs Erste genügte es, wenn der Captain ihn im Publikum
    wahrnahm und merkte, dass er dazugehörte, Teil einer fest ge-
    fügten Ordnung war, in der Fäuste mehr zählten als feinsinnige
    Argumente, und die Durchsetzungskraft von Gesetz und Gewis-
    sen etwa so groß war wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Sonne
    den Londoner Nebel durchdrang. in
    E e Ordnung, bei der ein
    Außenseiter gut daran tat, nichts in Frage zu stellen.
    Auch wenn Tom den Schliff und die Bildung eines Gentle-
    mans entbehrte, so war doch sein Geruchssinn scharf wie eh und
    je. Bald schon sah er sich in ein Gespräch mit den Begleitern des
    Captain verwickelt, die staunend über den zwischen Tom und
    dem Captain geschlossenen Handel debattierten. Und wenig
    später gab der Captain ihnen allen eine Runde aus, um das Ge-
    schäft zu besiegeln, und der sonst so wortkarge Tom ließ sich
    überreden, Geschichten von besonders blutigen Rattenkämpfen
    zu erzählen, was den Begleitern des Captain Schauder des Ent-
    setzens und der Erregung über den Rücken jagte. Und wiederum

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    ein wenig später, als die ersten Kämpfe vorüber waren und sich
    die Herrschaften, erschöpft vom Blutrausch und ihrer eigenen
    Verwegenheit, schwitzend und mit stierem Blick in ihren Stüh-
    len zurücklehnten, ließ sich Tom zu der Bemerkung hinreißen,
    dass das Leben eines Kanaljägers, tief unten in den Tunneln, an
    Gefährlichkeit alles in den Schatten stelle, was ein Mensch oben
    auf der Straße jemals erleben könne.
    Sofort wurden die A gen
    u
    der Gentlemen noch gr ßer,
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    begierig auf mehr hoffend, beugten sie sich vor.
    »Na sicher«, meinte der Captain und entblößte dabei die
    Zähne. »Ich möchte wetten, dort unten geschieht alles, was man
    sich an üblen Sachen ausmalen kann. Morde und noch Schlim-
    meres.«
    Tom zuckte die Achseln. »Man erlebt schon ziemlich merk-
    würdige Dinge.«
    »Erzähl uns davon«, forderte ihn der Captain auf, teils
    schmeichelnd, teils drohend.
    »Derlei werden Sie nicht hören wollen«, erwiderte Tom.
    »O doch«, insistierte der Captain, blickte auf die gespannten
    Mienen seiner Begleiter und ließ dabei verlockend die Münzen
    in seiner Tasche klimpern. »Und ob wir das hören wollen.«
    Und so begann Toms einträgliches Geschäft mit Geschichten
    aus dem Leben eines Kanaljägers. Plötzlich sprudelten aus dem
    Mann, der sein ganzes Leben nie auch nur eine Silbe zu viel ge-
    sprochen hatte, die Worte so ungezwungen und sorglos heraus
    wie bei einem Marktschreier. Geschichten von Niedertracht und
    Grausamkeit – genau das, wonach die feinen Herren gierten – ,
    Geschichten, die ihre Augen funkeln ließen und denen sie keu-
    chend und mit offenem Mund lauschten. Und je schauerlicher
    die Geschichte, umso mehr keuchten sie und umso mehr Mün-
    zen glitten aus ihren Taschen. Tom tat ihnen gern den Gefallen.
    Weshalb sich haarklein an die Wahrheit halten, wenn die feinen

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    Herren zufrieden waren? Also erfand er bei manchen wirklichen
    Vorkommnissen da und dort ein paar Einzelheiten hinzu und
    ließ der Fantasie ein wenig freien Lauf. Tom erzählte von Män-
    nern, die man, an Händen und Füßen gefesselt, bei Newgate in
    die Kanäle geworfen habe, wo grimmige Heerscharen von Rat-
    ten ihnen bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen
    fraßen, bis nur noch ihr Skelett und zwei zernagte Stücke Seil
    übrig waren. Er erzählte von einer Schenke, die nur einen Stein-
    wurf von der ihren entfernt lag; dort sei Männern, die ihre Kum-
    pel an die Polizei verpfiffen hatten, im Keller der Garaus ge-
    macht worden. Ihre Leichen habe man durch eine Falltür im
    Kanal verschwinden lassen, so dass man nie wieder etwas von
    ihnen hörte oder sah. Er erzählte vom Themseabschnitt beim
    alten Grinacre in Southwark, wo im Wasser haufenweise Lei-
    chenteile trieben, die Medizinstudenten nach der Sezierung der
    Toten dort in die offenen Kanäle warfen. Und diese fast wahre
    Geschichte schmückte er noch aus, indem er von Mördern be-
    richtete, die, um ihre Verbrechen zu vertuschen, ihre Opfer zer-
    stückelten und ebenfalls in diesen Kanalabschnitt warfen, wo sie
    sich mit den übrigen Leichenteilen vermischten.
    »Und die Mörder, die Leute, die ... diese entsetzlichen Verbre-
    chen begangen haben – bestimmt hat man sie gefasst, als die

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