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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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ihn
    kaum eines Blickes. Die goldenen Sprenkel in ihren Augen wa-
    ren hart und glanzlos wie beschlagenes Messing. Sämtliche Kü-
    chenmesser wie auch Williams Rasiermesser und den Brieföff-
    ner hatte sie in einem hohen Schrank weggesperrt. Der eiserne
    Schlüssel baumelte an ihrem Gürtel wie der eines Gefängniswär-
    ters. Als der kleine William damit spielen wollte, schlug sie ihm
    so heftig auf die Finger, dass er weinte. Später, als sich der Kleine
    in ihren Schoß schmiegte und die Augen schloss, strich sie ihm
    übers Haar, und in ihren karamellbraunen Augen schimmerten
    Tränen. Nachts schlief sie mit d m
    e
    Schlüssel unter ihrem Kopf-
    kissen.
    Sobald William einigermaßen bei Kräften war, drängte sie
    ihn, wieder zur Arbeit zu gehen. »Du trägst Verantwortung, falls
    du das vergessen hast«, wies sie ihn grimmig zurecht. »Andere
    würden alles dafür geben, um deinen Posten zu bekommen.
    Glaubst du etwa, sie a
    h lten dir die Stelle frei, während du Ohn-
    machtsanfälle hast wie ein zart besaitetes Frauenzimmer?«
    William lehnte sich an den Türpfosten. Das Treppensteigen
    hatte ihn erschöpft, ihm zitterten die Knie. Er hatte stark
    abgenommen. Die Hose schlotterte ihm um die Hüften, und
    das Fleisch unter seinen Wangenknochen schien wie mit einem
    Löffel herausgekratzt. Das Haar stand ihm in zotteligen Bü-
    scheln zu Berge. Er ähnelte dem Mann, der von der Krim zu ihr
    zurückgekehrt war. Polly hielt den Blick starr auf den Kamin ge-
    richtet.
    »Ich werde es ihnen sagen müssen«, begann William mit ru-
    higer Stimme. »Das mit dem Mord. Es ist meine Pflicht als Mit-
    arbeiter der Behörde. Das verstehst du doch, oder?«
    Als Polly herumwirbelte, rot vor Zorn, zuckte er zusammen.
    »Was ist eigentlich mit dir los?«, schrie sie. »Willst du uns zu-
    grunde richten? Willst du das? Sag!«

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    »Polly, bitte. Natürlich nicht. Natürlich möchte ich nicht, dass
    wir Scherereien bekommen, aber die Abwasserkanäle sind Eigen-
    tum der Behörde. Wenn dort unten ein Mord geschehen ist ... «
    »Ein Mord? Jetzt hör mir genau zu, du blinder, wirrköpfiger
    Trottel. Wenn tatsächlich ein Mord geschehen ist, dann solltest du
    verdammt noch mal hoffen, dass es nie herauskommt. Glaubst du
    vielleicht, sie bedanken sich herzlich und geben dir eine halbe
    Krone dafür? Du mit deinen ... mit deinen widerlichen Schnitt-
    wunden am ganzen Körper und dem blutigen Messer in der Ho-
    sentasche? Ich hab das Messer gefunden, William. Ich hab es ge-
    funden. Es sieht nicht gut aus für dich, meinst du nicht auch? Und
    wenn du hingehst und etwas von einem Mord erzählst – auf wen,
    glaubst du wohl, wird der Verdacht fallen?«

    203

XV

    D ie Angaben des Captain waren zwar nur vage gewesen, doch
    Tom hatte Glück. Nach ein paar hundert Metern stießen er und
    Lady auf die Leiche. Zuerst drang Tom ihr Geruch in die Nase.
    Ein intensiver, unverwechselbarer Geruch nach Blut, von ekliger
    Süße, so wie Blut riecht, wenn es anfängt zu trocknen. Und der
    Gestank nach Scheiße. Bevor der Kerl sein Fett abgekriegt hatte,
    hatte er sich die Hosen voll gekackt. Wer hätte geglaubt, dass
    man einen solchen Gestank hier unten würde herausriechen
    können, wo man schon einen halben Meter tief in Fäkalien
    steckte; aber Abwasser roch irgendwie anders. Kräftiger und ge-
    haltvoller. Der Mann war schon eine ganze Weile tot. Zwei Tage,
    schätzte Tom, aber die Kälte in den Tunneln hatte die Leiche
    frisch gehalten.
    Bis auf die Haare war die Leiche nahezu trocken. Die Flut hatte
    sie per Zufall bis zu einer Engstelle in einem der schmaleren Tun-
    nel getragen, die vom Abwasserkanal in der Dean Street abzweig-
    ten; dort steckte sie fest, ohne von Wasser umspült zu werden.
    Tom presste die Schulter gegen den toten Körper, der nachgab
    wie feuchter Lehm, ohne sich jedoch von der Stelle zu bewegen,
    weder vorwärts noch rückwärts. Der Kanal war tief, und selbst
    bei Flut würde die Leiche nicht von Wasser überschwemmt wer-
    den. Die Strömung war nicht stark genug, um sie woandershin
    zu transportieren, jedenfalls nicht bis im März die Springflut
    einsetzte. Tom lächelte in sich hinein. Du sorgst dafür, dass man
    ihn nicht findet, hatte der Captain ihm gesagt. Solange die Poly-
    pen keine Leiche hatten, konnten sie seinem Freund auch nichts

    204
    anhängen. Aber der Captain hatte das Geld seines Freundes
    unnütz verschwendet. Die Strömung hatte die Arbeit bereits für
    ihn erledigt. Selbst Tom hätte kein

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