Der Vermesser
er
unbedingt noch mitnehmen. Die Arme des Toten fingen schon
an, steif zu werden, was die Sache schwieriger machte, als Tom
gedacht hatte. Und den Mantel unter dem bleischweren Körper
des Toten hervorzuziehen war auch nicht gerade einfach. Doch
Tom machte so etwas ja nicht zum ersten Mal. Als er den Mantel
in der Hand hielt, begutachtete er ihn im Schein der Laterne. Al-
les in allem war er nicht schlecht in Schuss, lediglich die Tasche
war zerrissen, und ein Knopf fehlte. Er ließ die Hand in die Ho-
sentasche des Toten gleiten. Eine Lederbörse ohne Prägung. Tom
öffnete sie. Ein paar Münzen, kaum mehr als ein Shilling. Tom
fluchte vor sich hin. Wenn die Flut ihm nicht geholfen hätte,
hätte sich die Sache für ihn überhaupt nicht gelohnt. So wie̕s
aussah, war es die ganze Mühe nicht wert. Immerhin, die Hose
schien ganz passabel, wenn auch nicht so gut wie der Mantel.
Wenn sie gewaschen war, würde er beim Juden in der Rosemary
Lane ein bisschen was dafür bekommen. Hastig fummelte er an
den Knöpfen und hob Lady hoch, damit er dem Toten die Hose
abstreifen konnte. Mit dem Hund auf dem Arm gestaltete sich
das als ziemlich schwierig. Der Stoff war triefend nass und von
Blut und Abwasser verkrustet, und das Dingsbums und die
Beine des Toten waren steif wie ein Brett.
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Endlich hatte er es geschafft; er zog die Hose durchs Wasser,
um sie vom gröbsten Dreck zu befreien, rollte sie in den Mantel
und band sich das Bündel um den Bauch. Der nunmehr ent-
blößte Körper wirkte im fahlen Licht der Laterne schlaff, die
Beine waren merkwürdig haarlos und weiß wie die Aale, die sich
in den Abwasserkanälen tummelten. Die klaffende Halswunde
blitzte Tom mit widerlich schwarzem Grinsen entgegen. Er hatte
hier nichts mehr zu tun. Jetzt musste die Flut ihr Werk voll-
enden. In ein, zwei Wochen würde nicht mal seine Mutter ihn
wiedererkennen. Wenn alles gut ging, würde Tom in einer Wo-
che noch mal herkommen. Er und die Themsefischer würden
dafür sorgen, dass der Tote scheinbar unverhofft in Rotherhithe
aus dem Fluss gezogen würde. In Rotherhithe bekam man der-
zeit eine Krone und Sixpence von den Behörden, die die Todes-
ursache gerichtlich untersuchten, mehr als doppelt so viel wie an
jeder anderen Stelle der Themse, und weil Tom die Leiche gefun-
den hatte, stand ihm mindestens die Hälfte des Geldes zu. Der
Captain würde davon gar nichts mitbekommen. Tom vergewis-
serte sich, dass die Leiche noch immer im Tunnel feststeckte,
dämpfte das Licht seiner Laterne, nahm Lady hoch und watete
gegen die Strömung in Richtung des Hauptkanals.
Es war spät, als er sich in den Keller hochzog, viel später, als
er gedacht hatte. Das Geschrei in der Gasse, das aus den billi-
gen Absteigen in den Abend drang, war vom gleichförmigen
Rauschen der Nacht abgelöst worden. Tom nahm einen der
Rattenkäfige aus der Mauernische und stopfte die Kleider des
Toten hinein. Die Manschettenknöpfe ließ er in den Finger eines
Handschuhs gleiten, den er mit dem Taschentuch des Toten zu
einem Bündel verschnürte. Es gab eine Stelle in den Abwasser-
kanälen, die niemand außer ihm kannte. Dort war die Beute
in Sicherheit, bis Gras über die Sache gewachsen war. Man
konnte ja nie wissen. Die Polente war heutzutage wachsamer
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und schnüffelte, anders als früher, auch gern in den Elendsquar-
tieren herum.
Tom holte die Schriftstücke aus seiner Tasche und entfaltete
sie. Darunter war so etwas wie ein Brief, geschrieben auf Papier-
bogen so steif wie Fingernägel; zwischen den einzelnen Seiten
mehrere amtlich aussehende Schriftstücke, übersät mit Unter-
schriften und Stempeln und allem Drum und Dran. Der Captain
hatte die Schriftstücke erbeten. Als Beweis, wie er gesagt hatte.
Damit er sicher sein könne, dass Tom alles erledigt hatte. Tom
hatte sich dazu bereit erklärt. Jetzt besah er sich die Sachen und
befühlte sie zwischen den Fingern. Das Notizbuch trug aufge-
prägte Initialen. Damit hätte der Captain seinen Beweis. Und die
Schriftstücke? Nun, Tom hatte sein Leben auf der Straße zuge-
bracht, und er hatte eine gute Nase. Wenn man mit Männern wie
dem Captain Geschäfte machte, schadete es nicht, etwas in der
Hinterhand zu haben, für alle Fälle. Er verstaute daher das Bün-
del zusammen mit den Handschuhen und dem Taschentuch im
Saum seiner Jacke. Die Sachen würde er so bald wie möglich
in sein Versteck bringen. Die Briefmarken und die
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