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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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der
    hoch gelegene und der mittlere Auffangkanal allein unter Aus-
    nutzung der Schwerkraft nach Osten abfließen; damit aber auch
    das Abwasser aus dem niedriger gelegenen Kanal ablaufen und
    sich mit den beiden anderen Auffangkanälen vereinen konnte,
    musste deren Inhalt mehr als vier Meter auf das Niveau der an-
    deren Kanäle hochgepumpt werden. Der gesamte Abwasser-
    strom sollte dann in einen Auslaufkanal geleitet werden, der
    oberirdisch durch Marschland bis zu einem Reservoir westlich
    des Barking Creek führte. Zu diesem Zweck hatte Bazalgette die
    Firma James Watt & Co. beauftragt, nach seinen präzisen Vorga-
    ben acht riesige Dampfmaschinen zu bauen. Der Plan sah über-
    dies ein Gebäude für deren Unterbringung vor, mit einem Zu-
    gang zu dem riesigen Tunnelsystem, das der Zusammenfluss der
    drei großen Auffangkanäle erforderlich machte.
    Planung und Bau einer solchen Anlage, die ihre Funktion effi-
    zient erfüllte, gestalteten sich als nicht besonders schwierig. Das
    enorme Gewicht der riesigen, mit Kohle betriebenen Dampfma-
    schinen hingegen bereitete den Inspekteuren und Baufirmen,
    die mit der praktischen Ausführung betraut waren, durchaus
    Kopfzerbrechen. Ein einfaches Gebäude mit Mauern und einem
    Dach hätte wahrscheinlich ausgereicht. Aber für Bazalgette und
    die Baubehörde war die Pumpstation weit mehr als nur ein Haus
    zur Unterbringung von Pumpen und Messgeräten. London
    hatte für die Erneuerung des Abwassersystems mehr als drei
    Millionen Pfund bewilligt. Es war sogar eine neue Drei-Penny-

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    Steuer eingeführt worden, um das Unternehmen zu finanzieren.
    Jeder Grundbesitzer in London durfte ein Teilstück des einhun-
    dertunddreißig Kilometer langen neuen Tunnelsystems, das un-
    ter der Stadt entstand, sein Eigen nennen.
    Das Pumpwerk in Abbey Mills würde neben jenem in Cross-
    ness für das Kanalnetz im Süden Londons das größte und finan-
    ziell aufwendigste ingenieurtechnische Projekt sein, das die Welt
    je gesehen hatte, wobei kaum jemals jemand das Privileg haben
    würde, es zu besichtigen. In Bazalgettes Augen war das Pump-
    werk die sichtbare Verkörperung jenes großartigen Tunnelsys-
    tems, das aufgrund seiner Funktion jeglicher Romantik ent-
    behrte und im Untergrund verborgen blieb.
    Bazalgette hatte für Abbey Mills ein prachtvolles Bauwerk
    im byzantinischen Stil entworfen, eine kreuzförmige Backstein-
    konstruktion, gekrönt von einer imposanten Kuppel und flan-
    kiert von zwei mächtigen Schornsteinen, jeder mehr als sechzig
    Meter hoch. Die Wände sollten in einem dekorativen Muster
    aus drei Backsteinarten unterschiedlicher Tönung gemauert
    und die Wölbungen mit aus Stein gemeißeltem Früchte- und
    Blumendekor verziert werden. Die achteckige Konstruktion des
    Innenraums wurde getragen von gusseisernen, mit Kapitellen
    gekrönten Säulen und einer aufwendig gestalteten schmiede-
    eisernen Galerie.
    Auch William war sich zwar durchaus bewusst, dass dies
    eine prachtvolle Anlage werden würde, aber anders als seine Kol-
    legen war er für deren Zauber unempfänglich. Er konzentrierte
    sich ganz auf die logistische Herausforderung. Zahlreiche Be-
    rechnungen waren erforderlich. Damit das Abwasser effizient
    hochgepumpt werden konnte, mussten die Dampfmotoren di-
    rekt oberhalb des Kanalnetzes angebracht werden, was ange-
    sichts des Gewichts allein der Schwungräder von jeweils mehr
    als fünfzig Tonnen eine besondere Schwierigkeit darstellte. Wil-

    233
    liam machte sich mit verbissener Entschlossenheit, aber ohne
    freudigen Eifer ans Werk, so als wären die Dampfmotoren eine
    Besatzungsarmee, die ihn gefangen genommen und versklavt
    hatte. Dennoch boten ihm die systematischen Zahlenreihen,
    welche vor ihm auf dem Tisch die Seite füllten, einen gewissen
    Trost. In seiner Schreibnische war er in Sicherheit. Draußen auf
    der Straße, wo ihm keine Zahlenreihen Halt boten, fühlte er sich
    oft verloren und orientierungslos. Die Wunde an seinem Bein
    war schlecht verheilt, und auf den zerfurchten Straßen konnte er
    sich nur humpelnd und unsicher bewegen. Der dicke Winter-
    nebel bereitete ihm panische Angst. Aus der Dunkelheit tauch-
    ten Gesichter auf wie die Geister Ermordeter. Einmal geriet
    er vor einen Omnibus und wäre überfahren worden, wenn ihn
    nicht ein aufmerksamer Straßenfeger am Ärmel gepackt und
    zurückgezogen hätte. Beim italienischen Scherenschleifer in der
    Broad Street hatte sich William ein Messer zum Ausnehmen von
    Fischen gekauft

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