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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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war das Dröhnen in seinen Oh-
    ren. Ein Gewicht drückte ihm auf die Brust, bleischwer wie ein
    Toter, so dass er fast keine Luft bekam. Und auf einmal war er
    wieder in Cuckold̕s Point, fast noch ein Kind, und der Schlamm
    der Themse zog ihn nach unten, immer tiefer nach unten, wäh-
    rend er strampelte und versuchte, irgendwo Halt zu finden. Doch
    der Schlamm presste ihm die Rippen zusammen und drückte
    seine Schultern nach unten, und er sah hinauf zum Himmel und
    hatte den Geschmack von Schlamm und Scheiße im Mund und
    wartete nur darauf, bis ihm der stinkende Brei in Nase und Au-
    gen drang, ihm das letzte bisschen Wärme, Atem und Leben
    raubte und ihn von vorne und hinten und von oben und un-
    ten mit dickem, stinkendem Kot ausfüllte, der ihn von innen
    verfaulen ließ, bis er selbst schwarz und kalt und dunkel und
    vermodert war.
    Der Beutel mit den vierzig Guineen war schwer. In seinem
    ganzen Leben hatte er keine so große Summe besessen. Er wog
    das Geld in der Hand, wie es der Captain getan hatte, und ein
    heißer Schauder der Ehrfurcht durchfuhr ihn. Vierzig Guineen.
    Er ließ die Worte auf der Zunge zergehen und kostete ihren kal-
    ten süßen Klang. Nächste Woche würde er weitere dreißig be-

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    kommen. Und noch einmal dreißig eine Woche darauf. In seiner
    Brust wurde es heller – eine Flamme, die die Schatten zurück-
    drängte. Er drückte den Beutel fest in der Faust zusammen, bis
    ihn die Münzen in die Handfläche schnitten, dann steckte er ihn
    in die Geheimtasche seiner Segeltuchjacke und klopfte darauf,
    so, wie es der Captain gemacht hatte. Das Gewicht zog an seiner
    Jacke, und er hätte schwören können, dass die Münzen einen
    mattgoldenen Schein abstrahlten, der ihm die alten Knochen
    wärmte. Das Schriftstück hatte er im Saum seiner Jacke ver-
    wahrt. Er würde das Geld und das Dokument in den Abwasser-
    kanälen verstecken, wo es sicher war. Einhundert Guineen. Sein
    Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Es war Zeit, nach Hause
    zu gehen. So mechanisch wie er Luft holte, schnippte er mit den
    Fingern und streckte die Hand aus. Er warfeinen ungeduldigen
    Blick zu Boden, bevor es ihm wieder einfiel. Seine Hand kam
    ihm groß und leer und albern vor, als er sie tief in der Jacken-
    tasche vergrub und sich seine Finger um den klobigen Geld-
    beutel schlossen. Dann machte er sich mit den Guineen auf den
    Heimweg.

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XVII

    W ie er Polly versprochen hatte, erstattete William den Behör-
    den keine Meldung über einen Mord, als er unmittelbar nach
    Weihnachten zu seiner Arbeit in der Greek Street zurückkehrte.
    Er redete kaum mit jemandem, sondern zog sich in seine Ar-
    beitsnische zurück und sprach nur, wenn das Wort an ihn ge-
    richtet wurde. Und selbst dann musste man ihn oft an der Schul-
    ter berühren, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er
    gemeint war. Über den Tisch gebeugt, drückte er bisweilen den
    Bleistift mit solcher Kraft aufs Papier, dass die Mine abbrach und
    auf der Schreibunterlage ein vollständiger Abdruck seiner Be-
    rechnungen zu sehen war. Er war von kränklicher Blässe, und
    die gelben, blutunterlaufenen Augen unter den schweren Lidern
    wiesen dunkle Ringe auf. Wie Hawke angelegentlich zu Lovick
    meinte, schien der Vermesser durch seine Krankheit um mindes-
    tens zehn Jahre gealtert. Offenbar, fügte Hawke hinzu, sei der
    Ärmste der Belastung, die seine Position mit sich brachte, immer
    weniger gewachsen. Das sei vor allem durch seinen anhaltend
    schlechten Gesundheitszustand bedingt und – hier senkte Hawke
    raunend die Stimme, schließlich handelte es sich hier um einen
    offenen Meinungsaustausch zwischen Männern von beruflicher
    Integrität – auch seine zunehmende Labilität. Die Greek Street
    sei schließlich kein Krankenhaus und die Baubehörde keine
    Wohlfahrtseinrichtung für Rekonvaleszente. Ob denn nicht bes-
    ser ein anderer Vermesser an seiner Stelle ernannt werden solle?
    Lovick, der eine Abneigung gegen Hawke hegte und insge-
    heim schwere Zweifel an seiner beruflichen Integrität hatte, sah

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    sich gezwungen, ihm Recht zu geben. May war krank, das war
    nicht zu leugnen. Er musste ihn daher von seinen Aufgaben als
    Inspekteur der Abwasserkanäle entbinden, ohne ihn jedoch zu
    entlassen. Vielmehr teilte er William der Gruppe zu, die für
    den Bau der Pumpstation in Abbey Mills zuständig war, wo alle
    drei nördlichen Auffangkanäle zusammengeführt wurden. Laut
    Bazalgettes genialem, sorgfältig durchdachtem Plan sollten

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