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Der Vermesser

Der Vermesser

Titel: Der Vermesser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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hatte geglaubt, es sei die einfachste, natür-
    lichste Sache der Welt. Für Polly war es mit dem Glück genau
    das Gleiche wie mit der Tugendhaftigkeit. Es behielt immer
    die Oberhand. Es konnte auf die Probe gestellt werden wie im
    Märchen, wo Kinder ihre Ehrlichkeit unter Beweis stellen muss-
    ten; aber wie die Tugendhaftigkeit würde auch das Glück am
    Ende siegen, wenn diejenigen, die an dieses Glück glaubten,
    sich nur entschlossen genug von denen abwandten, die es in Ge-
    fahr brachten.

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    Der Krimkrieg war eine solche Prüfung gewesen. Und Polly
    hatte gewartet und alles ertragen, bis die warmen Strahlen des
    Glücks und der Hoffnung die grauen Gespenster dieses Krieges
    vertrieben wie die Sonne den Morgennebel. Eine Zeit lang waren
    sie wieder glücklich gewesen. Aber jetzt infizierten sein Unglück
    und Elend wie ein giftiger schwarzer Pesthauch alles, was mit
    ihm in Berührung kam. Ihr Lachen vermochte diese Düsternis
    nicht zu erhellen. Ihre zärtlichen Küsse zerfielen zu Asche. Ihre
    aufmunternden Worte und ihr heiterer Gesang verhallten unge-
    hört, der Fröhlichkeit und jeden Sinns beraubt. Diese Macht war
    zu stark für sie, zu grausam. Und so wurde ihr Lachen bitter, und
    die Züge um ihren Mund wurden hart, und ihre Lippen runde-
    ten sich nicht mehr zu einem Kuss. Der Gesang blieb ihr in der
    Kehle stecken und drohte sie zu ersticken. In der Düsternis sei-
    nes Unglücks verlor sie nicht nur ihren Mann aus dem Blick,
    sondern auch sich selbst.
    All dies entging William nicht, und er hielt es in seinem
    Notizheft fest. Täglich durchforstete er die Zeitungen nach einer
    Nachricht über die Geschehnisse jenes Abends. Doch er fand
    keine Meldung über eine Leiche, die man aus den Abwasserkanä-
    len geborgen hatte, geschweige denn über einen Vermissten.
    Doch Williams Gewissheit wuchs. Er war nicht verrückt. Es war
    ein Mord geschehen. An jenem Abend war in den Tunneln je-
    mand ermordet worden. Irgendwo in den unterirdischen Kanä-
    len gab es eine Leiche. In seinem neuen Arbeitsbereich gab es kei-
    nen plausiblen Grund für ihn, die Abwasserkanäle aufzusuchen,
    aber er würde schon einen Vorwand finden. Zum Beispiel die
    Überprüfung von Messungen oder die Beschwerde eines Haus-
    besitzers, die Fundamente würden absinken. Am Rande hatte
    er noch immer mit dem Strowbridge-Vertrag zu tun. Eilig ließ
    er Donald Hood, einen der Lehrlinge, kommen und beauftragte
    ihn mit einer genauen Überprüfung des Tunnelabschnitts zwi-

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    schen Regent Circus und den Seven Dials. Er verlangte einen
    schriftlichen Bericht bis Ende der Woche.
    Am Donnerstag hatte er noch immer keine Nachricht von
    Hood. An jenem Abend saß William in seiner Schreibnische,
    lange nachdem der letzte Ingenieur nach Hause gegangen war,
    und starrte in sein Notizheft. Er hatte gehört, wie ein Mann
    starb. Ertränkt?, schrieb er. Und darunter: Oder erwürgt? Erst
    viel später, als er das leise Röcheln des Mannes immer und im-
    mer wieder in seinem Gedächtnis wachrief, erkannte er, dass er
    einen Fehler gemacht hatte. Er strich die beiden Sätze durch,
    dachte einen Augenblick nach und schrieb dann mit dickem
    schwarzem Bleistift, indem er

    sehr fest aufdrückte: Kehle durchgeschnitten. Das unterstrich er zwei Mal.
    Lange starrte er auf die Wörter, die er geschrieben hatte. Am
    liebsten hätte er die Zeit angehalten, damit er still hier sitzen
    bleiben konnte, während die Stimmen in seinem Kopf ver-
    stummten. Damit er niemals mehr aufstehen, seinen Mantel an-
    ziehen und nach Hause zurückkehren musste, um erneut den
    Ausdruck von Abscheu und Entsetzen zu sehen, der sich in ihre
    weichen Gesichtszüge eingegraben hatte. Aber die Zeit ließ sich
    nicht anhalten, die Stimmen ließen sich nicht zur Ruhe bringen.
    Und schließlich, als die Kerze heruntergebrannt war und sich
    der schmierige Talg in einer dicken Lache auf dem Kerzenhalter
    gesammelt hatte, schrieb William die Worte nieder, die er bis zu
    diesem Augenblick nicht zu denken gewagt hatte.
    Sie glaubt, ich hätte ihn getötet.
    Lange saß er da, den Bleistift über dem Blatt, während sich die
    Worte, die er als Nächstes niederschreiben würde, in seinem
    Kopf zusammenballten. Mit zittriger Hand drückte er den Blei-
    stift aufs Papier, und die Buchstaben, die er schrieb, waren kra-
    kelig und dünn.
    Habe ich ihn getötet?

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    »May!«
    Hastig schob William das aufgeschlagene Notizheft unter einen
    Papierstapel und rappelte sich hoch. Lovick spähte

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