Der Vermesser
und es in einer abgeschlossenen Schublade sei-
nes Schreibtischs versteckt. Die Schnitte waren zwar nicht tief,
kaum mehr als Kratzer, aber sie zeichneten ein wildes Muster auf
seine Haut, das er täglich weiter ausschmückte.
Seine neuen Kollegen, die sich in der Hierarchie der Baube-
hörde für etwas Besseres hielten als die Tunnelinspekteure, küm-
merten sich nicht weiter um ihn. Sie aßen gewöhnlich gemein-
sam in einem Kaffeehaus in der Dean Street zu Mittag, doch
nachdem William ihre erste halbherzige Einladung, sich ihnen
anzuschließen, abgelehnt hatte, fühlten sie sich nicht länger ver-
pflichtet, ihn erneut einzuladen. William verzehrte also allein
seine Mittagsmahlzeit. Jeden Tag lenkte er dabei seine Erinne-
rung zu den Abwasserkanälen, die er an jenem schrecklichen
Abend durchwandert hatte, und spürte den Geräuschen und Ge-
rüchen nach in der Hoffnung, irgendeinen Aufschluss darüber
zu erhalten, was dort geschehen war. Wenn er sich nur daran er-
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innern könnte, sagte er sich immer und immer wieder, dann war
er nicht verrückt. Er würde Polly beweisen, dass er nicht ver-
rückt war. Und so klammerte er sich an seine Erinnerungen wie
ein Bergarbeiter an ein Seil, das ihn sicher aus der Dunkelheit
herausführen soll. Seine botanischen Skizzenbücher trug er
längst nicht mehr mit sich herum, ja er wusste kaum mehr, wo
sie waren. Aber er hatte ein ledergebundenes Notizheft, in das er
jeden Erinnerungsfetzen eintrug. Bald war eine halbe Seite in
seiner gedrängten Handschrift gefüllt. Und ganz allmählich füg-
ten sich die Teile zu einem Bild. Er beäugte es skeptisch und un-
gläubig, erregt und erschrocken zugleich.
Und er erzählte niemandem davon. Es gab ja auch nieman-
den, mit dem er darüber hätte sprechen können. Sein Wunsch,
Polly einzuweihen, war längst erloschen. Ihr Blick an jenem
Abend, als sie ihn angeherrscht hatte, über den Mord unbedingt
Stillschweigen zu bewahren, hatte ihn von ihr entfernt, und von
dem Augenblick an war die Kluft zwischen ihnen immer größer
geworden. Sie saßen zwar nebeneinander vor dem Küchen-
feuer – sie den Kopf tief über ihre Näharbeit gebeugt, er mit lee-
rem Blick über einem Buch auf seinem Schoß –, aber William
war überzeugt, dass sie, selbst wenn er sich heiser schrie, keine
Silbe verstehen würde. Er konnte nicht die kränkende Bitterkeit
vergessen, mit der sie ihn angefahren hatte, ihr wutverzerrtes,
bleiches Gesicht. Dieses Gesicht. Es hing wie ein Wintermond
über der dunklen Nacht seiner Erinnerungen: die Augen zusam-
mengepresst, die Nasenflügel gebläht und blutleer, Mund und
Hals in Abscheu von ihm abgewandt, als wäre ihr schon sein blo-
ßer Anblick unerträglich.
Sie fand ihn abstoßend. William hatte es deutlich an ihren
bleichen Gesichtszügen ablesen können. Er erregte ihren Ekel
und machte ihr Angst. Seine Gebrechlichkeit empfand sie als
verabscheuenswürdig, als eine feige und jämmerliche Unter-
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werfung unter einen Feind, den er mit ein wenig Schneid und
Anstrengung leicht würde besiegen können. Doch gleichzeitig
fürchtete sie seine Kraft, den schrecklichen Mut, der ihn dazu
trieb, sich ein Messer ins eigene Fleisch zu stoßen. Sie sah ihn
an und konnte es nicht ertragen, dass der Fels, auf den sie ihr
Leben aufgebaut hatte, zu Sand zerfiel. Ihr Mann, der für sie
Beständigkeit, Ernst und Weisheit verkörpert hatte, der um sei-
ner Liebe willen das Gewicht seiner und ihrer Welt auf seine
Schultern genommen hatte, damit sie durch das Leben tanzen
und wirbeln konnte, ohne sich mit mehr belasten zu müssen als
mit einer Blume hinter dem Ohr – dieser Mann hatte es zuge-
lassen, dass er zerbrach. Und er würde sie mit sich reißen, das
war der Lauf der Dinge. Es ging nicht nur und in erster Linie um
Wohlstand oder um einen guten Charakter. Polly hatte sich
an die Sicherheit gewöhnt, die Williams Einkommen ihr ver-
schaffte, an die Behaglichkeit ihres kleinen Hauses, an den so-
zialen Rang, den man innehatte, wenn einem ein Mädchen für
die niedrigeren Arbeiten zur Verfügung stand. Sie genoss die-
ses neue Ansehen. Aber aus eigener Erfahrung wusste sie sehr
wohl um die Wechselfälle des Lebens und hätte sich damit ab-
finden können, dies alles wieder zu verlieren; sie hätte kör-
perliche Arbeit ertragen, solange sie sich nur glücklich wähnte.
Und ihr ganzes Leben lang hatte sie stets danach getrachtet,
glücklich zu sein. Sie
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