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Der Verräter von Westminster

Der Verräter von Westminster

Titel: Der Verräter von Westminster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gemacht und hätten es sehen müssen, wenn noch jemand gerannt wäre. Der Mann, der ihn umgebracht hatte, musste auf ihn gewartet haben. Woher aber hatte er gewusst, wohin sich West wenden würde? Es konnte nur ein großer Zufall sein, denn ebenso gut hätte West in jede beliebige andere Richtung fliehen können.
    Ob das stimmte? War es ein entsetzlicher Zufall gewesen, dass West auf Wrexham gestoßen war?
    Noch einmal ging Pitt in Gedanken den Weg, den sie genommen hatten. Er kannte Londons Straßen und Gassen gut genug, um sie vor seinem inneren Auge wie auf einem Stadtplan zu sehen und ihnen Schritt für Schritt zu folgen. Außer ihnen war niemand aus der Menschenmenge gerannt. West war um eine Ecke geeilt und aus Pitts Blickfeld verschwunden. Gower war ihm gefolgt und hatte einen Arm ausgestreckt, um Pitt die Richtung anzuzeigen, in die es ging. Pitt hatte in der langen, schattigen Gasse vielen Menschen ausweichen müssen, und dann hatte die nächste Hauptstraße schon vor ihnen gelegen, als Gower bei dem Versuch, West zu schnappen, gestrauchelt, gegen eine Mauer geprallt und stehen geblieben war.
    Pitt hatte West eine ganze Weile allein weiterverfolgt und schließlich aus den Augen verloren – und dann war Gower unvermittelt aus einer Seitenstraße zu ihm gestoßen und hatte ihn mit sich gezogen. Er hatte genau gewusst, welchen Weg sie weiter nehmen mussten, und Pitt geradewegs zu Wests Leichnam geführt.
    Pitt stolperte und blieb stehen. Mit einem Mal war ihm alles klar: Gower war ein glänzender Läufer. Er hätte, nachdem er gegen die Mauer geprallt war und einen Moment innegehalten hatte, Pitt und West in einigem Abstand folgen und dann, während Pitt die Fährte verloren hatte, mit etwas mehr Glück West auf den Fersen bleiben und ihn auf Höhe
der Ziegelei einholen können. Damit hätte er Gelegenheit gehabt, West eigenhändig zu töten und danach zu Pitt umzukehren. Er hätte in die Seitenstraße schlüpfen, im Schatten einer Mauer warten und erst wieder herauskommen können, als Pitt eintraf. Ja, er hatte West getötet, nicht Wrexham. Wests Blut war ja bereits über die Steine des Ziegeleihofs gelaufen, als sie ihn erreichten. Jetzt konnte Pitt die Szene ganz deutlich vor sich sehen: West war nicht vor Wrexham geflohen, sondern vor Gower. Wrexham war harmlos und hatte lediglich als Köder gedient, der Pitt nach Saint Malo locken und dort festhalten sollte – während anderswo ein teuflischer Plan ins Werk gesetzt wurde.
    Dies »anderswo« konnte nur London sein, weil es andernfalls sinnlos gewesen wäre, Pitt von dort wegzulocken.
    Gower also. In einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten würde Pitt wieder in Saint Malo sein. Gower würde höchstwahrscheinlich schon in ihrer Pension auf ihn warten. Mit einem Mal sah Pitt ihn nicht mehr als den umgänglichen und ehrgeizigen jungen Mann, als der er ihm noch am Vormittag erschienen war, sondern als einen gerissenen und äußerst gefährlichen Fremden, den er nur oberflächlich kannte. Er wusste von Gower, dass er einen tiefen Schlaf hatte, leicht Sonnenbrand bekam, gern Schokoladenkuchen aß, sich gelegentlich beim Rasieren schnitt, auf dunkelhaarige Frauen flog und recht gut singen konnte. Er hatte aber nicht die geringste Vorstellung davon, woher der Mann kam, woran er glaubte oder auf wessen Seite er stand – kurz, von all den Dingen, auf die es ankam und die seine Handlungsweise in dem Augenblick bestimmen würden, da man ihm die Maske vom Gesicht riss.
    Jetzt sah sich Pitt mit einem Mal genötigt, selbst eine Maske zu tragen, denn sein Leben konnte davon abhängen, dass er Gower etwas vorspielte. Mit einem Frösteln dachte er daran,
wie gekonnt dieser West mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchtrennt und ihn auf den Steinen hatte liegenlassen, wo er verblutet war. Der kleinste Fehler, und Pitt konnte auf dieselbe Weise enden. Wer in Saint Malo würde darin mehr sehen als ein schreckliches Verbrechen durch einen Straßenmörder? Zweifellos würde Gower dann wieder als Erster auf der Bildfläche erscheinen, um Entsetzen und Bestürzung zu heucheln.
    Pitt hatte niemanden, an den er sich wenden konnte. In Frankreich wusste man nicht, wer er war, und von London konnte er vor Ort keinerlei Unterstützung erwarten. Ebenso gut hätte Saint Malo in einer anderen Welt liegen können. Selbst wenn er ein Telegramm an Narraway schickte, würde das nichts bewirken. Gower würde einfach irgendwohin verschwinden – Europa war groß.
    Er ging weiter. Die Sonne

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