Der Verrat
ein kleiner Bildschirm montiert, auf dem Rapp den Gefangenen auf seiner Pritsche liegen sah. Er war wirklich ein Koloss – etwa einen Meter neunzig groß und mindestens hundertzwanzig Kilo schwer. Rapp war einen Meter dreiundachtzig groß und wog achtzig Kilo; somit bildete er vielleicht ein verlockendes Angriffsziel für den Mann. Insgeheim hoffte Rapp fast ein wenig, dass der Kerl ihn angreifen könnte; er hatte zwar eine Abneigung gegen Folter, doch er war andererseits kein geduldiger Mensch. Es gab einfach zu viel zu tun, und er würde hier nicht eine Woche verschwenden, um die Wahrheit aus dem Mann herauszubekommen.
Die Tür hatte keine Klinke – nur einen Riegel. Rapp zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das große Vorhängeschloss. Er hängte das Schloss an einen Haken neben der Tür, blickte noch einmal auf den Monitor und öffnete dann die Tür. Milinkovich stützte sich augenblicklich auf die Ellbogen. Rapp trat einen Schritt in den Raum und schob die Tür hinter sich zu, ließ sie jedoch einen Spaltbreit offen. Rapp sah, dass Milinkovich die Tatsache registrierte, dass die Tür nicht richtig geschlossen war. Außer dem Bett stand noch eine kleine tragbare Toilette in einer Ecke, die nach Desinfektionsmittel roch. An der Decke war eine Lampe montiert, die durch ein Stahlgehäuse geschützt war. Auf dem Bett lag kein Kissen, kein Laken und keine Decke – nur eine dünne Matratze. Unter Milinkovich hätte selbst ein übergroßes Bett klein gewirkt, doch das normale Einzelbett sah angesichts seiner Körperfülle geradezu lächerlich aus.
Rapp trat neben die Tür, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte sein Jackett ausgezogen und die Pistole in Colemans Büro gelassen. Seine dunklen Augen musterten Milinkovich einige Sekunden. Sie hatten seine Nase und sein Ohr genäht, und auch ohne Röntgenbild waren sie sich ziemlich sicher, dass sein Kiefer gebrochen war.
Rapp zeigte auf ein Buch am Boden. »Haben Sie darin gelesen?« Er hatte ein Exemplar von George Orwells »1984« in die Zelle gelegt – in der Hoffnung, dass der Gefangene vielleicht einige der Folterszenen lesen würde.
Milinkovich blickte auf das Buch hinunter und schüttelte den Kopf. »Ich brauche dieses Buch nicht zu lesen. Ich habe es gelebt.«
Rapp lächelte. »Leider waren Sie im falschen Team.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben gesagt, dass Sie schon lange beim KGB sind«, sagte Rapp in skeptischem Ton. »Als KGB-Agent waren Sie eindeutig im falschen Team.«
»Nicht jeder, der beim KGB war, ist ein schlechter Mensch.«
Ein wahres Wort, dachte Rapp bei sich.
»Wir sind nicht so verschieden, Sie und ich«, sagte der Fleischberg und setzte sich auf die Bettkante.
Rapp sah, dass er sich etwas mühsam bewegte. Der Stress, die Gefangenschaft und seine Leibesfülle hatten seine Muskeln steif werden lassen. Sie hatten ihm auch die Schuhe abgenommen. Wenn er versuchen sollte, einen Überraschungsangriff zu starten, würde er in den Socken auf dem glatten Betonboden schwerlich Halt finden.
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Rapp amüsiert.
»Amerikaner … wahrscheinlich CIA. Vielleicht Defense Intelligence Agency. Sicher mit Special-Forces-Ausbildung.«
Rapp war froh, dass Milinkovich nur eine vage Vermutung hatte, wer er war. Er überlegte, ob er ihm sagen sollte, dass er für die Israelis arbeitete. Das war eine alte List, die selbst einem gottlosen Kommunisten eine richtige Gottesfurcht einflößen konnte. Besonders gut funktionierte es bei den Weißrussen, die die Juden oft sehr grausam behandelt hatten.
»Vielleicht … vielleicht auch nicht«, sagte Rapp schließlich.
Milinkovich blickte sich in der Zelle um. »Wo sind wir hier?«
Einer der Grundsätze eines jeden Verhörs war es, den Gefangenen zu verwirren und ihm die Orientierung zu rauben. Rapp hatte versucht, sich in den Mann hineinzuversetzen. Milinkovich war auf dem Transport von Zypern nach Baltimore die meiste Zeit betäubt gewesen. Möglicherweise hatte er gespürt, dass sie unterwegs einen Zwischenstopp einlegten, aber er hatte keine Fenster gehabt, durch die er hätte hinausblicken können. Seine naheliegendste Vermutung war wohl, dass sie in Amerika waren, aber er erwog bestimmt auch die Möglichkeit, dass sie ihn für das Verhör in ein ehemaliges Ostblockland gebracht hatten, vielleicht sogar nach Weißrussland. Es war kein Geheimnis, dass die Amerikaner gewisse Facetten des Krieges gegen den Terrorismus
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