Der Verrat
vonVerlegenheit erzählt. Jetzt sag mir etwas über Mitleid.Wie ist das?«
»Ach so«, sagte Mae, legte das Heft weg und schlang nachdenklich dieArme um die Knie. »Mitleid ist ⦠wenn man hört, dass jemandem etwas Schlimmes passiert ist, oder man sieht, dass er verletzt oder traurig ist, dann fühlt man sich schlecht, nur weil der andere sich schlecht fühlt, selbst wenn man ihn eigentlich nicht mag. Man will helfen.«
Nick lieà sich mit dem Rücken zurWand zu Boden gleiten und zog ein Knie an. Kopfschüttelnd fixierte er Mae mit seinen ausdruckslosenAugen. »Mitgefühl.«
»Wie Mitleid«, erklärte Mae, »nur herzlicher.«
Sie dachte daran, dass Liannan gesagt hatte, sie hätte in hundert Jahren nie auch nur den kleinsten FunkenWärme in Nick gesehen. Es überraschte sie nicht, dass er wieder den Kopf schüttelte.
»Angst«, sagte er und es klang fast, als gefiele ihm dasWort. Doch Mae war sich ziemlich sicher, dass das, was ihm tatsächlich gefiel, die praktischeAnwendung war: Furcht einzuflöÃen. Er betrachtete sie gerne von auÃen.
Sie dachte an denAugenblick, alsAlan â damals noch fast ein Fremder für sie â ihr gesagt hatte, dass die schwarzen Male auf Jamies Körper bedeuteten, dass er sterben würde.
»Das kalte Gefühl, dass etwas Schreckliches kommt«, sagte sie langsam. »Wie ein Kind im Dunkeln, das wie gelähmt ist, obwohl es eigentlich etwas tun müsste, weil es weiÃ, dass, sobald es sich rührt, etwas unvorstellbar Schreckliches passieren kann.«
Nick sah sie eineWeile an und nickte dann schlieÃlich. »Ich glaube, mit derAngst kann ich etwas anfangen.«
Er sah keineswegs ängstlich aus. Mae wollte ihn nicht fragen, was ihn Fürchten gelehrt hatte, wenn es nicht die Jahrhunderte gewesen waren, die er in der Dunkelheit gefangen war. Sie wollte nicht hören, was seine gröÃteAngst war â dass er von seinem Bruder verraten wurde und wieder in die Fänge der Magier geriet â, denn wenn sie das hörte, würde sie ihrerseitsAlan verraten. Sie würde Nick sagen, dass das Einzige, vor dem er sich fürchtete, wahr werden würde.
»Ich will nach Hause«, sagte sie.
Nick stand auf und wies mit dem Kopf zurTür.Also würde er sie nach Hause fahren. Mae war ihm unglaublich dankbar dafür. Sie verspürte eine Müdigkeit in ihrem Kopf wie einTier, das schon zu lange versucht, aus seinem Käfig auszubrechen. Sie suchte nach einemWeg, wie sie alle aus dieser verfahrenen Situation herauskommen sollten, aber sie fand keinen, und es gab niemanden, der ihr helfen konnte.
Bevor sie das Haus verlieÃen, ging Nick insWohnzimmer und kniete sich nebenAlan, um ihn zu schütteln. Mae stand an derTür und sah, wieAlan sich wand und blinzelnd aufwachte, sich streckte und sich dann auf die Lippe biss, als er sein schlimmes Bein zu weit streckte. Sein Gesicht war blass, zerknittert und ein wenig weich vom Schlaf. Er blinzelte mit den blauenAugen, die groà und verwirrt dreinsahen.
»Du kannst doch nicht die ganze Nacht hier schlafen, du Irrer«, sagte Nick mit rauer Stimme. »Dann ist dein Bein morgen noch schlimmer. Geh rauf ins Bett.«
»Wo ist meine �«, begannAlan vage.
Nick nahmAlans Brille aus seinerTasche und reichte sie ihm.Alan nahm sie entgegen, schien aber unschlüssig, was er damit tun sollte. Er hielt sie nur in den Fingern und lieà sie dann auf seine Brust fallen und schloss wieder dieAugen.
»Steh auf«, sagte Nick bestimmt und zog ihn mit Gewalt vom Sofa hoch. »Geh ins Bett. Sofort! Sieh dich doch nur an. Du hast doch nicht etwa wieder Kisten geschleppt, oder?«, erkundigte er sich plötzlich scharf.
»Nein«, widersprachAlan liebevoll und fuhr Nick durch die Haare.
Mae hatte so etwas bei Jamie schon tausend Mal gemacht, aber nicht ein einziges Mal war er so zurückgezuckt oder hatte ihre Hand so weggeschlagen wie Nick es jetzt beiAlan tat.Alan wirkte nicht einmal überrascht, nur ein bisschen erschöpfter, und er lächelte erst Nick und auf demWeg nach oben auch Mae müde an, als er an ihr vorbeiging und nach oben ins Bett humpelte â offensichtlich zu schläfrig, um sich über ihreAnwesenheit zu wundern.
Auf dem Heimweg sprachen sie nicht miteinander. Mae rückte so weit wie möglich von Nick weg, legte dieWange an die kühle Fensterscheibe und sah in die schwarze,
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