Der Verrat

tanzen!«
    Die Musik schien aus dem Nichts zu kommen, bis Mae die Ruinenmauer sah. Dort saßen dieTrommler verborgen wie das Orchester in seinem Graben, andere spielten Gitarre oder Flöte, und alle Instrumente vereinten sich zu einer fremdartigen Harmonie. Drei Musiker standen vorne und jeder von ihnen sang ein anderes Lied. Eines handelte vonTintagel, eines vom Jahrmarkt der Kobolde – mit dem Refrain »Kauft, Leute!« – und das dritte war ein Gesang aus aneinandergereihtenWorten, deren Sinn Mae nicht verstehen konnte.
    Â»Taw, Cenio,Tamar!«, sang die Frau in ansteigendenTönen. Sin nahm Mae an der Hand.
    Mae hatte erwartet, dass Sins Hände weich waren, aber stattdessen waren sie stark und voller Schwielen. Sin führte Mae in die Beschwörungskreise, die sich berührten, aber doch einzeln lagen, und sie hielten sich über dem Punkt, an dem sich die Kreise trafen, an den Händen.
    Sobald Mae den Kreis betrat, spürte sie den Unterschied. Irgendwie schien sich der Boden unter ihren Füßen zu verändern, als flösse Strom in den Linien, die sie in die Erde gezogen hatte, und als müsste sie auf einem summenden, elektrischen Draht balancieren. Der Gesang wurde lauter, doch Mae konnte dieWorte nicht mehr verstehen. Es war ein fieberhaftes Geräusch geworden, das sich mit dem Rauschen des Meeres verband.
    Sin zwinkerte ihr noch einmal zu und ließ dann ihre Hände los.
    Â»Ich rufe den Schatten imWald, der Reisende verlockt, fern der Heimat zu sterben!«, rief sie und ihre Stimme erhob sich im Einklang mit all den anderen Geräuschen, bittend und süß, als wolle sie ihren Liebhaber wieder ins Bett locken. »Ich rufe denTraum, der Menschen von wahrer Liebe und warmer Haut entfremdet! Ich rufe sie, die Blut trinkt und aus derAsche ersteht. Ich rufe Liannan!«
    Während Sin sprach, begann sie zu tanzen, und mit ihr fingen alle Linien des Kreises an, sich zu bewegen und zu verschwimmen wie die Speichen an einem Fahrrad, und Mae musste sich mit ihnen bewegen. Die verschwommenen Linien unter ihr leuchteten, und sie fühlte sich, als würde sie auf dem Netz aus Seilen tanzen, über einem tiefenAbgrund, nur ein Stolpern vom kalten, kreischendenVerderben entfernt.
    DerWind zerzauste ihr die Haare und Mae lächelte vor sich hin.
    Aus demAugenwinkel sah sie Sin herumwirbeln, eine verwischte Gestalt aus weißer Seide und weißem Feuer, besser, als Mae es je können würde, aber das war in Ordnung.Auch Nick war besser gewesen. Jemanden etwas so gut machen zu sehen, war nicht nur schön, sondern gleichzeitig mitreißend und anregend. Es war eine Herausforderung.
    Die Linien zwischen derWelt der Dämonen und derWelt der Menschen drehten sich so schnell, dass sie zu verschwinden schienen und sich in einen schimmernden Nebel wie einen Schleier zwischen den beidenWelten verwandelten. Einen Schleier, den man zerreißen konnte. Der Kreis schien fast in den kaltenAbgrund stürzen zu wollen, wie eine Falltür, die sich unter Maes Füßen auftat, und der Gesang ähnelte beinahe einem entsetzten Schrei. Das Publikum schwieg jetzt gebannt, und Mae hörte, wie ihr eigenerAtem und der von Sin in einem gemeinsamen Rhythmus kamen.
    Mae hob die Hände über den Kopf, wie sie es bei Sin am Klippenrand gesehen hatte, fügte nur zum Spaß einen Hüftschwung hinzu und tanzte.
    DerTanz endete ganz natürlich, wie ein Kampf oder ein Musikstück, und mit dem Pulsschlag ihres Körpers wurden gleichzeitig auch dieTrommeln langsamer. Keuchend blieb sie stehen. Sie liebte es, liebte den ganzen Markt und wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, das alles für immer zu behalten.
    Sie hatte fast den Grund für den ganzen gefährlichen und überwältigendenTanz vergessen, bis sie die Dämonin an dem Punkt aufsteigen sah, wo sich ihre Kreise berührten und Feuer sprühte.
    Die Dämonin erhob sich. Magie umgab sie wie eine goldschimmerndeWolke eine dunkle Göttin.
    Dann fiel die Magie ab, als sei sie tatsächlich nur eine Hülle und blieb glühend zu Füßen der Dämonin – Liannan – liegen. Es sah aus, als stünde sie in einer Nebelbank.
    Mae hatte noch nie einen Dämon in Gestalt einer Frau gesehen.
    Sie sah ganz und gar nicht aus wie der Dämon, den sie beim letzten Mal mit Nick angerufen hatte. Mae hatteAnzu zwei Mal gesehen, und beide Male war er eine dunkle Gestalt gewesen, eine goldene