Der Verrat
verbeulte Dach regnen. Für jeden anderen hätte dieserAnblick völlig normal ausgesehen.
Die Beifahrertür ging auf und Mae sahAlan aussteigen. Er bewegte sich steif und in seinem dunkelroten Haar warf die Sonne goldene Reflexe.
Mae bemerkte, dass sie dasTelefon viel zu fest umklammerte, nahm es in die andere Hand und versuchte, die Finger zu entkrampfen, die offenbar in der Haltung bleiben wollten, in der sie denTelefonhörer gehalten hatten.
»Ãh, ja, ich habe dauernd gehustet«, sagte sie aufs Geratewohl insTelefon.
»Wie bitte?«, fragte die Sekretärin trocken. »Ich dachte, ich spräche mit Mrs Crawford.«
»Ich glaube, ich habe dasselbe wie Mavis«, erklärte Mae hustend. »Diese Soireen sind die reinen Infektionsherde. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss weg.«
Als sie auflegen wollte, verfehlte sie die Station beim erstenVersuch, sah ihre verräterische Hand vorwurfsvoll an und legte schlieÃlich auf wie ein vernünftiger Mensch. Die Sprechanlage summte, und sie drückte auf denToröffner, ohne auch nur hinzusehen. Sie starrte immer noch aus dem Fenster.
Alan humpelte zurTür. Sein Hinken hatte sie als erstes an ihm bemerkt, damals, als er nur ein Junge war, der in dem nah gelegenen Buchladen arbeitete und jedes Mal rot wurde, wenn sie ihn ansprach. Es war nur ein kleines Zögern in seinem Schritt, es behinderte ihn nicht sehr, aber er lieà es sich anmerken, weil ihn das Hinken harmlos erscheinen lieÃ. Es war eine perfekteTarnung, weil es echt war.
Sein Bruder folgte ihm. Er ging entweder einen Schritt voraus oder einen Schritt hinterAlan, bewachte ihn und deckte ihm den Rücken. Mae glaubte nicht, dass es Nick je in den Sinn kommen würde, neben jemandem herzulaufen. Er dachte wohl, es sei unsinnig, jemanden nur um der Gesellschaft willen zu begleiten.
Nick sah nicht harmlos aus. Er versuchte es nicht einmal.
Alans Hinken wirkte in Nicks Gegenwart viel schlimmer, denn Nick lief wie ein Fluss in der Nacht, in flieÃenden Bewegungen, die dasAuge immer erst eine Sekunde zu spät wahrnahm. Er bewegte sich mit einer unheilvollen Grazie: Sein Gang war geschmeidig und man hatte das Gefühl, wenn er auf einen losginge, würde man ihn nicht einmal kommen sehen.
Mae spürte, dass ihr Herz zu schnell schlug und ihreWangen brannten. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie so ein Idiot war.
Sie ging nach unten und redete sich bei jedem Schritt ein, dass es in Ordnung war, dass sie sie angerufen hatte, weil sie Hilfe brauchte, und nicht, weil sie einen von beiden besonders gern sehen wollte. Sie legte sich ein paar besonnene und praktische Sätze zurecht.
Doch als sie dieTür öffnete und ihre Gesichter sah, vergaà sie sie alle.
Sie und Jamie hatten über eineWoche mit ihnen zusammengewohnt, ihre Gesichter waren ihr so vertraut wie die alter Freunde, aber sie hatte die beiden seit demTag nicht gesehen, an dem sie jemanden getötet hatte und sie dieWahrheit über Nick erfahren hatten. Sie sahen anders aus, anders, obwohl sie ihr vertraut waren, und auch sie selbst fühlte sich anders, als wäre sie zerbrochen und nicht wieder vollständig zusammengesetzt worden. Sie waren real. DieseWelt der Magie, sie war völlig real, und der von Exeter so unähnlich.Alan und Nick waren einTeil der Magie und der Gefahr und des Blutes, an das sie jede Nacht denken musste.
»Hi«, sagte sie.
»Schön, dich wieder zu sehen, Mae«, sagteAlan und umarmte sie.
Sie wunderte sich nicht so sehr über die Geste als eher über das Gefühl. Es erinnerte sie an ihren ersten Eindruck vonAlan, als sie in ihm einen mageren, aber irgendwie niedlichen Rotschopf mit freundlichenAugen hinter der breitrandigen Brille gesehen hatte, und der Meinung war, dass er nett, harmlos und ganz und gar nicht ihrTyp war.
Jetzt wusste sie es besser, doch als er dieArme um sie legte, war da dieses kurze, erkennende Gefühl einer Dissonanz. Er sah ganz anders aus, als er sich anfühlte.
Seine Brust und seineArme waren erstaunlich hart. Mae spürte feste Muskeln und unter dem dünnen T -Shirt trug er eineWaffe. Mae fühlte sie, als sie sich kurz an ihren Bauch drückte.
Alan war nicht harmlos. Und es machte ihm nichts aus, dass sie es wusste.
Einen Moment lang dachte sie nicht einmal daran, die Umarmung zu erwidern, sondern stand nur wie erstarrt da.Als sie ihm schlieÃlich die Hand auf die Schulter legte, trat er schon
Weitere Kostenlose Bücher