Der verruchte Spion
nicht schlecht behandelt, dass er dich aber auch nicht leiden könne. Das verstehe ich nicht.«
»Dalton? Er hat Probleme damit, mir etwas zu vergeben, was ich getan habe.«
»Was hast du denn getan?«
Er zuckte die Schultern und stieß sie damit ein bisschen an. »Ich habe seine Frau angeschossen.«
Sie hob den Kopf und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Angeschossen?«
»Ich wollte das nicht. Ich hatte versucht, ihn zu erschie ßen.«
»Oh«, sagte sie schwach. »Das ergibt natürlich Sinn.«
»Ich wollte sagen, ich habe versucht, ihn nicht zu treffen.«
»Gut. Weil du nicht auf ihn gezielt hast.«
»Nein, das hab ich. Ich meine … ach, ich kann es nicht wirklich erklären.«
»Nein, das Gefühl habe ich auch.«
»Hältst du mich jetzt für einen Schurken?«
Sie zögerte. Dann holte sie tief Luft und lächelte ihn an. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Wenn du Clara angeschossen hast, dann hattest du wahrscheinlich einen guten Grund dafür.«
»Den hatte ich wirklich.«
Sie schmiegte den Kopf wieder an seine Schulter. »Da bin ich mir sicher.«
Sie lagen sich eine Weile ganz still in den Armen. Die Nacht um sie herum ging zu Ende, und die Geräusche eines Londoner Morgens stahlen sich in ihr Zimmer. Sie war fast eingeschlafen, als er sie an sich drückte.
»Willa?«
»Ja, Liebster?«, murmelte sie.
»Ich hatte einen sehr guten Grund.«
»Ja, Liebster.«
»Ich wollte nur, dass du das weißt.«
»Ja, Liebster.«
»Gute Nacht, Willa.«
»Gute Nacht, Nate.«
22. Kapitel
N athaniel war fort, als Willa spät am Morgen erwachte. Nicht nur er war nicht mehr da, sondern auch jeglicher Hinweis darauf, dass er jemals in ihrem Schlafzimmer gewesen war. Als sie angekleidet war und auf dem Weg zum Frühstück, kam sie an seinem Zimmer vorbei. Die Tür stand offen – nun, zumindest war sie nicht abgeschlossen -, also warf sie einen schnellen Blick hinein. Sein Gemach war riesig, noch viel größer als ihr eigenes, und bestand, so weit sie das sehen konnte, aus mindestens zwei Zimmern. Hinter dem Wohnzimmer konnte sie einen kleinen Teil seines reich verzierten Himmelbettes erkennen.
Er hatte mit Sicherheit darin geschlafen. Also hatte er sie nicht nur verlassen, kurz bevor sie aufwachte, sondern hatte den Rest der Nacht in seinem eigenen Zimmer verbracht.
Er war einfach nur diskret, beruhigte sie sich. Sonst nichts.
Als sie an der Treppe ankam, kam Lily zu ihr hinaufgestürmt. »Oh, Mylady! Eure neuen Sachen! Alles ist eben angekommen!«
Willa juchzte. Neue Kleider! »Lass alles hinauf in mein Zimmer bringen, Lily. Bitte besorg mir etwas Tee und Toast. Und frag Myrtle, ob sie zu mir kommen möchte.« Oh, was für ein Spaß! Sie würde jedes einzelne Teil anprobieren!
Myrtle erschien sofort, mit Daphne im Schlepptau. Willa begrüßte sie gut gelaunt, denn die Leidenschaft für neue Kleider teilten sie beide.
Es war ein mädchenhafter Trubel von Kombinieren und Anprobieren. Myrtle setzte jeden Hut auf, obwohl sie ihr alle zu groß waren und ihr über die Augen rutschten. Sogar die zurückhaltende Daphne ließ sich anstecken und gab Willa Tipps, welchen Schal und welchen Hut sie zu welchem Kleid tragen sollte.
Tee und Toast wurden gebracht und kühlten ab, bevor sich Willa an ihren Hunger erinnerte. Schließlich deckte sie das Tablett ab und knabberte ein bisschen am Toast, während Lily die Hüte in ihre jeweilige Schachtel legte, denn Myrtle hatte alles durcheinander gebracht, und Daphne entschied, welches Kleid Willa zum Ball an diesem Abend ihrer Meinung nach tragen sollte. Eine gefaltete Zeitung war mit dem Tee und dem Toast gekommen.
»Oooh, such mal nach der ›Voice of Society‹«, sagte Myrtle. »Sie ist bissig, ich mag das.«
Auch Willa hatte inzwischen von der Klatschspalte erfahren, und sie blätterte eilig in der Zeitung. »Ich hab’s!« Sie las die erste Zeile laut vor: »›Wir alle wissen, wer Anfang des Jahres Unruhe in die Herde gebracht hat. Letzte Nacht ist er endlich wieder ans Licht der Öffentlichkeit getreten. Und wer sonst sollte hinter ihm herrennen als ein wolliges Lämmchen, das sich willig zur Schlachtbank führen ließ?‹« Willa hielt inne und fuhr dann etwas langsamer fort: »›Hübsche Lämmchen leben nicht lange. Sollten wir sie nicht warnen, dass ihr Wachhund in Wahrheit ein Wolf ist und sie bei lebendigem Leibe fressen wird?‹«
»Oje«, murmelte Myrtle. Daphne schüttelte traurig den Kopf. »Das war kaum anders zu erwarten gewesen.«
Willa warf
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