Der verruchte Spion
die Zeitung schnaubend von sich. »Furchtbar. So unpassend. Was geht die das überhaupt an?«
Myrtle tätschelte ihr die Hand. »Nimm’s nicht so …« »Da stimmt überhaupt nichts! Wölfe leben im Rudel, das ist schon mal das Erste. Und dann reißen sie auch längst
nicht so viele Lämmer, wie die Leute immer meinen. Schafe werden normalerweise sehr gut bewacht. Ziegen, ja, Ziegen fressen sie gern …« So machte sie noch eine Weile weiter. Sie erzählte über die Jagdmethoden eines Wolfsrudels und war gerade beim Ausweiden des Opfers angelangt, als sie innehielt. Myrtle und Daphne beäugten sie irritiert. Willa errötete. »Ich will damit nur sagen …« Sie ließ das Ende des Satzes im Raume stehen.
»Du hast nichts von einem Schaf, so viel steht fest«, sagte Myrtle überzeugt.
»Zibbe«, sagte Willa. »Was ist?« Myrtle schaute an sich herunter und wischte sich über die Brust. »Hab ich da was?«
»Zibbe.« Willa zuckte die Achseln. »Ein erwachsenes weibliches Schaf.«
»Genug jetzt«, sagte Myrtle scharf. »Ich weiß, dass du versuchst, nicht an diesen Haufen Lügen zu denken, also versuch nicht, mich abzulenken, Fräulein.«
Langsam sank Willa inmitten der aufgestapelten Schachteln und Kartons nieder. »Ich weiß«, sagte sie traurig. »Ich habe ja auch nicht geglaubt, dass es über Nacht passiert. Aber da steht kein einziges Wort darüber, wie gut er aussah, oder über mein Kleid, oder darüber, woran wir so hart gearbeitet haben.«
»Wovon redet Ihr?« Daphne zog die hübschen Augenbrauen zusammen. »Ihr könnt doch nicht ernstlich annehmen, Ihr könntet die Gesellschaft davon überzeugen, Nathaniel wieder zu akzeptieren?« Sie presste eine Hand an den Hals. »Glaubt Ihr wirklich, das wäre möglich?«
»Ha!«, stieß Myrtle aus. »Und ob es möglich ist!« Sie warf die Zeitung in das glimmende Feuer in Willas Kamin. »Nimm das, du widerliche Kreatur!«
Langsam lächelte Willa die beiden Frauen an. »Dann kann ich also auf euch zählen?«
Das jungfräulich weiße seidene Hofkleid wurde geplättet und angezogen. Es saß gut, von dem breiten goldbestickten Streifen am Saum bis hin zur tief ausgeschnittenen Korsage. Dankenswerterweise hatte Kitty sich für eine Tiara entschieden statt für einen mit Federn geschmückten Turban. Willa war sich nicht sicher, ob sie mit einem Turban zurechtkommen würde. So stöckelte sie in ihren hochhackigen Schuhen umher, die sie tragen musste, weil sie Kittys kostbares Kleid nicht wegen dieser einmaligen Leihgabe kürzen lassen wollte.
Im Audienzsaal des St. James Palace wurde Willa angesichts der blassen Nervosität der anderen Debütantinnen etwas sicherer. Eines der Mädchen drohte in Ohnmacht zu fallen. Ihre Begleiterin zog ein Riechfläschchen hervor und hantierte damit, als täte sie kaum etwas anderes.
Willa fiel das Atmen leichter. Sie mochte zwar ein bisschen wacklig auf den Beinen sein und unsicher über das Protokoll, aber sie war nicht so nervös.
Die breiten Türen am anderen Ende des Saales schwangen auf, und die Menge wurde unruhig. Willa lugte durch einen Wald aus Pfauenfedern und war plötzlich froh über ihre hohen Absätze. Eine stämmige, prächtig gekleidete Person betrat den Saal. Alle Anwesenden verneigten sich tief oder machten einen Hofknicks. Der Prinzregent winkte den Anwesenden lässig zu und ließ sich seufzend auf dem Thron nieder.
»Er sieht gar nicht so aus, wie ich ihn mir all die Jahre vorgestellt habe«, flüsterte Willa Myrtle zu, als sie sich wieder aufrichteten.
Myrtle nickte, und ihre lilafarbenen Federn wippten. »Ja, er war einmal ein wirklich hübscher Kerl. Ich erinnere mich daran. Als er aufwuchs, sah er die Hälfte der Zeit aus wie ein Engel – und die andere Hälfte wie ein Teufel.«
Beeindruckend. »Wirklich? Und was siehst du jetzt in ihm?«
Myrtle musterte den Prinzen, und ihr Blick wurde etwas traurig. »Jetzt sehe ich einen einsamen Mann, glaube ich. Einsam und gelangweilt.«
Eine nach der anderen wurden die nervösen Mädchen vor den Prinzregenten geführt, damit sie vor ihm knicksten. Ihre Namen und Vorfahren wurden mit lauter Stimme von einem Herold mit Perücke vorgelesen, aber George sah nicht so aus, als würde er zuhören.
Als sie an der Reihe war, holte Willa tief Luft und ging nach vorne, wobei sie in ihren Schuhen nur ganz wenig wackelte. Sie knickste so tief, dass sie mit der Nasenspitze fast den Fußboden berührte und sich um die Sicherheit ihrer Tiara sorgte.
»Miss Willa Trent«, las
Weitere Kostenlose Bücher