Der verwaiste Thron 02 - Verrat
werden, als Deserteuren in die Hände zu fallen. Er hatte gesehen, wie man in Westfall mit ihnen umging. Sie würden ihm keine Gnade erweisen.
Sein Körper sabotierte die Geschwindigkeit seiner Gedanken. In der Enge der Kutsche bewegte er sich ungeschickt und quälend langsam. Auch nach all den Jahren schien sein Geist noch nicht begriffen zu haben, dass er Herrscher einer Ruine war.
Craymorus drehte sich. Seine Beine schleiften über den Boden. Eine Metallschiene blieb an der Vorratskiste hängen und zog sie mit sich. Er streckte die Hand aus und zog die Verriegelung der rechten Tür zurück. Die Deserteure liefen auf die linke Seite zu. Vielleicht würde die Zeit reichen, die sie benötigten, um auf die andere Seite zu gelangen.
Er stieß die Tür auf, aber sie federte sofort wieder zurück. Überrascht sah er auf. Eine Hand legte sich über ihn auf den Holzrahmen. Ein Schatten fiel in die Kutsche, dann tauchte das Gesicht eines Mannes auf. Es war ein hässliches, fleischiges Gesicht voller roter Flecken und verschorfter Wunden.
»Ich hab ihn!«, rief der Mann mit einer Stimme, so hässlich wie sein Gesicht.
Craymorus stieß mit einer Krücke nach ihm. Es knirschte. Der Mann schrie und verschwand. Craymorus hörte, wie er zu Boden fiel. Rasch zog er die Tür zu und verriegelte sie. Erst dann bemerkte er die Sinnlosigkeit dieses Tuns. Die Fenster waren so groß, dass ein Mann hindurchpasste, die Kutsche so eng, dass er keinem Schwerthieb ausweichen konnte.
»Das Schwein hat mich geschlagen!«, schrie die hässliche Stimme draußen. Eine andere lachte.
Craymorus nahm die Krücke in beide Hände, hielt sie wie einen Speer. Er dachte nicht mehr an eine Flucht, nicht mehr an einen Plan, nur noch an das nächste Gesicht im Fenster der Kutsche.
Als es auftauchte, stach er danach, doch es zuckte rechtzeitig zur Seite. »Verdammt schnell für einen Krüppel«, hörte er die fremde Stimme sagen. »Aber ich bin schneller.«
Er antwortete nicht. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Die Muskeln in seinen Armen spannten sich an. Er zuckte zusammen, als ein Stein neben ihm gegen die Wand flog und auf die Sitzbank fiel.
»Na, was machst du jetzt?«, rief die Stimme. Sie war dunkel. Craymorus glaubte, das Grinsen in ihr zu hören.
Sie spielen mit mir , dachte er.
»Bringt sie doch endlich um!«, schrie jemand draußen. Craymorus nahm an, dass die Soldaten gemeint waren.
Eine Hand griff plötzlich in seine Haare. Er schrie auf und duckte sich. Mit der Krücke stach er nach dem Mann, der den Arm durch das linke Fenster gesteckt hatte. Er streifte ihn an der Schulter, dann prellte ihm ein Schlag die Krücke aus den Händen. Sie wurde durch das Fenster nach draußen gezogen.
Die hässliche Stimme grölte, die dunkle lachte. Craymorus griff nach der zweiten Krücke. Sie lag unter ihm, hatte sich zwischen den Sitzen und Kisten verkantet. Er zog daran mit schmerzenden Händen, bekam sie jedoch nicht frei. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er verachtete sich dafür.
»Wer hat dich denn zum Fürsten gemacht?«, fragte die dunkle Stimme. Craymorus hob den Kopf und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Einer der Deserteure stützte die Ellbogen auf den Fensterrahmen und sah ihn an. Lachfalten umgaben seine Augen, aber sein Mund war hart und verkniffen.
Craymorus ließ die Arme sinken. »Was wollt ihr?«
»Wir wollten Gold, Waren – alles, was du besitzt.« Der Deserteur zog die Nase hoch. »Das war, bevor wir wussten, wer du bist. Der Fürst.«
Das hässliche Gesicht tauchte neben ihm auf. Es war blutverschmiert und verquollen. Sein Blick musterte Craymorus und blieb an den Metallschienen hängen. »Bei den Vergangenen, was denkt man sich bloß in Westfall, Laas?«
Laas richtete sich auf. Eine Hand verschwand und kehrte mit einem langen Messer zurück. »Hol ihn raus.«
Der Hässliche nickte, öffnete die Tür und …
Ein Pfeil nagelte seine Hand gegen das Holz. Craymorus blinzelte, der Mann schrie und ging in die Knie.
Ein zweiter und dritter Pfeil bohrte sich knarrend in seine Brust. Aus dem Schrei wurde ein Wimmern.
Laas duckte sich hinter der Tür, verlor so das Innere der Kutsche aus den Augen.
Craymorus kroch auf den Sterbenden zu und zog ein Schwert aus dessen Gürtel. Der Mann sah ihn an. Seine Lippen bewegten sich. Blut und Speichel vermischten sich zu einem rötlichen Schaum. Craymorus wandte den Blick ab.
Rufe und Schreie hallten durch den Wald. Er konnte nicht sehen, was hinter ihm geschah.
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