Der verwaiste Thron 02 - Verrat
Schnitt seines Messers durchtrennte er das Seil. Ein Pferd schnaubte nervös, als er sich neben ihm aufrichtete. Jonan griff in seine Mähne und zog sich auf den breiten Rücken. Aus dem Stechen in seiner Seite wurde ein Brennen. Er dachte so wenig darüber nach wie über seine Entscheidung zur Flucht. Das eine konnte er nicht ändern, das andere wollte er nicht.
Mit den Fersen lenkte er das Pferd aus der Koppel. Die anderen Tiere wichen zur Seite. Er spürte die Wärme ihrer Körper durch seine nasse Kleidung. Hinter ihm verstummte die Unterhaltung der Jungen.
»Hey!«, hörte er einen von ihnen rufen.
Jonan schlug dem Pferd die Fersen in die Flanken. Mit einem Sprung überwand es den Bach und galoppierte über die Wiese, dem Waldrand entgegen. Die anderen Pferde liefen mit, angespornt von den Rufen der Jungen und der plötzlichen Bewegung. Jonan ritt geduckt, den Kopf an den Hals der Stute gelegt, die Hände in ihrer Mähne vergraben.
Die Herde fächerte auseinander. Hufe warfen Gras und Schlamm hoch in die Luft. Ihr Trommeln übertönte alle anderen Geräusche.
Jonan sah sich nicht um. Er konnte nicht beeinflussen, was die Miliz tat. Nur sein eigenes Handeln zählte. Das hatte man ihn gelehrt, daran hielt er sich.
Die Stute tauchte in den Wald ein. Es gab kaum Unterholz, das hatten die Männer im Lager längst für ihre Feuer verbraucht.
Jonan wandte sich nach Westen, lenkte das Pferd langsam in einem Bogen um das Lager herum. Hin und wieder konnte er Zelte und umherlaufende Männer durch die Bäume erkennen. Dann zog er sich tiefer in den Wald zurück, bis er nur noch von Braun und Grün umgeben war. Weit südlich des Lagers verließ er den Schutz der Bäume schließlich. Es hatte erneut angefangen zu regnen. Der Wind trieb einen dunklen Vorhang aus Wasser und Kälte über das Land.
Jonan drehte sich um. Der Vorhang trennte ihn von der Welt. Es schien nichts zu geben außer ihm, dem Pferd und dem Regen, genau so, wie er es wollte.
Habe ich richtig gehandelt? , fragte er sich. Er war seinen Instinkten gefolgt, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht war es gar nicht Daneel, vor dem er geflohen war, sondern ein harmloser alter Priester. Vielleicht hatte er die Sicherheit der Miliz umsonst gegen die riskante Reise allein eingetauscht.
Vielleicht, aber er glaubte nicht daran. Da war etwas in den Gesichtern der Männern gewesen, eine eigenartige Verzückung, die er nach Gesprächen mit Daneel auch in sich selbst verspürt hatte. Er dachte nicht gern daran, also ließ er den Gedanken fallen und lenkte sein Pferd in Richtung des Großen Flusses. Seine Aufgabe lag vor ihm, nicht hinter ihm.
Kapitel 5
Es gibt zwei Dinge, denen der Reisende in Srzanizar nicht begegnen wird: einer geraden Linie und einem ehrlichen Menschen. Wer kann schon sagen, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Umständen gibt?
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
»Was ist das für eine Stadt?«, fragte Ana. Die Stricke schnitten in ihre Handgelenke. Sie war durstig und hungrig.
Hetie hob den Kopf. »Srzanizar.« Es war das erste Wort, das sie seit ihrer Gefangennahme sprach. »Von hier sollte unser Schiff gehen.«
Ana hatte den Namen der Stadt noch nie gehört. Ihr Blick glitt über die moosbewachsene hohe Mauer, die sich vom Ufer des Flusses bis in die Hügel zog. Dort verschwand sie hinter den Bäumen. Soldaten standen darauf, schwarze Silhouetten vor einem dunkelroten Himmel.
Zwei von ihnen hockten neben dem geöffneten Tor, durch das der Weg in die Stadt führte. Sie spielten ein Spiel mit bunten Holzkugeln auf einem Gittermuster, das sie in den Staub gekratzt hatten. Sie trugen Lederkappen, eiserne Brustplatten, schwere Lederröcke, die bis zu ihren Knöcheln reichten, und geschnürte Sandalen. Ihre Speere lehnten an der Mauer.
Einer der Soldaten sah auf, als die maskierten Banditinnen näher kamen. Er stieß seinen Kameraden an. Ana bemerkte, dass ihm ein Ohr fehlte.
»Helft uns!«, rief Marta hinter Ana. Sie hob ihre gefesselten Arme, die Handflächen wie zum Gebet zusammengepresst. »Bitte helft uns!«
Die beiden Soldaten wandten sich ab und richteten ihre Blicke auf den Wald. Der jüngere von beiden berührte die vernarbte Stelle, an der sich einst sein Ohr befunden hatte. Vielleicht, dachte Ana, hatte er sich irgendwann einmal nicht schnell genug abgewendet.
»Bitte!« Marta stolperte hinter dem Pferd her, an dem ihr Strick befestigt war. »Bitte! Seht uns
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