Der verwaiste Thron 02 - Verrat
endlose schwarze Fläche, die mit dem Horizont verschmolz, ruhig und gleichmütig. Keine Welle kräuselte die Oberfläche, kein Wind zwang dem Fluss seinen Rhythmus auf. Er war da, so wie er es stets gewesen war, es stets sein würde.
Ana beneidete ihn.
Sie wandte den Blick nicht ab, während sie an ihren Fesseln hinter dem Pferd hergezogen wurde. Erst als sich das Tor hinter ihr schloss und die Endlosigkeit des Flusses dem Grau der Mauern wich, drehte sie sich um.
Sie stand in einem Innenhof. Rechts und links von ihr befanden sich Stallungen, vor ihr ein großes Gebäude aus Holz und Stein, dessen unteres Stockwerk deutlich höher war als das obere. Eine steile Holztreppe führte nach oben zu einem Balkon, der das gesamte Gebäude zu umlaufen schien wie eine Galerie. An der Vorderfront des Hauses befand sich eine offen stehende schmale Tür, durch die man auf den Balkon gelangen konnte. Es gab einige Fensterlöcher, in denen Tauben saßen und leise gurrten.
Hühner liefen über den Innenhof, vorbei an drei Frauen, die in einer offenen Küche hockten und Fische in große Blätter einrollten. Auch sie trugen Gesichtstücher, allerdings hatten sie diese nicht hoch über Mund und Nase gezogen, sondern trugen sie wie Halstücher. Rauch wehte aus dem Lehmofen über den Hof. Der Geruch erinnerte Ana daran, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte.
Sie sah sich um und zählte die Frauen. Es waren fünfzehn. Bis auf die drei, die das Abendessen zubereiteten, waren alle bewaffnet. Niemand sagte etwas.
Die Banditinnen, die sie hergebracht hatten, zogen ihre Gesichtstücher endlich nach unten. Innerhalb ihres Quartiers war die Maskerade sinnlos.
Einige von ihnen verschwanden im Haupthaus, die anderen blieben stehen. Eine hielt die Stricke ihrer Gefangenen wie Pferdezaumzeug in der Hand, eine andere hatte die Handschuhe ausgezogen und wusch sich die Hände in einem Fass Regenwasser.
»Könnten wir bitte etwas Wasser bekommen?«, fragte Ana sie. In der Stille klang ihre Stimme unnatürlich laut.
Die Frau hob den Kopf. Ana blickte in dunkelbraune Augen. Einen Moment zögerte die Banditin, dann tauchte sie eine Kelle in das Fass.
»Danke.« Ana nahm ihr die Kelle aus der Hand. Ihre Haut war dunkel, die schlanken, langen Finger voller Schwielen.
Ana setzte sich neben Hetie und Marta in den Staub und reichte Hetie die Kelle. »Hier, trink etwas.«
Die beiden tauschten einen kurzen Blick, dann senkte Hetie den Kopf. »Ich bin nicht so durstig. Lass Marta zuerst trinken.«
Die ältere Frau nahm Ana die Kelle aus der Hand und trank gierig. Wasser lief ihr über Kinn und Hals. Sie ließ die Kelle erst sinken, als sie leer war. Ana ballte die Hand zur Faust. Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Hetie legte ihr die Finger auf den Arm.
Bitte keinen Streit , bat ihr Blick.
Ana presste die Lippen zusammen und nickte.
Schweigend hockten sie im Innenhof. Es war fast dunkel. Die Schatten der Banditinnen verschmolzen mit den Silhouetten der Gebäude. Nach einer Weile tauchte eine ihrer Entführerinnen an der Tür des Haupthauses auf und nickte den anderen zu.
Ana stand auf, bevor sie durch einen Ruck des Stricks dazu gezwungen werden konnte. Hetie half Marta auf die Beine. Die Räuberinnen führten sie durch die Tür ins Haupthaus. Fackeln und Öllampen erhellten einen großen rechteckigen Raum. Lange Tische und Holzbänke standen dort, auf der rechten Seite gab es abgetrennte Bereiche, in denen vielleicht früher einmal Pferde untergebracht worden waren, die nun jedoch als Schlafplätze dienten. Auf der linken Seite befand sich eine Theke, dahinter eine Tür, die in einen weiteren Raum führte. Sie stand offen.
An der Wand daneben lehnte ein Mann. Er war so groß, dass er über den Türrahmen hinausreichte, und muskulös. Seine nackten Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Er war der einzige Mann, den Ana und ihre Mitgefangenen bisher im Quartier der Räuberinnen gesehen hatten.
»Ihr lebt. Seid froh darüber«, sagte er. »Wenn ihr uns keinen Ärger macht, wird das auch so bleiben.«
Seine Stimme war rau und laut. Er hatte langes schwarzes Haar, das er zu einigen Dutzend Zöpfen zusammengeflochten hatte. Seine Wangen waren tätowiert, das Gesicht wirkte im Halbdunkel kantig und hart.
Ana blieb stehen. Die Banditin vor ihr zog an ihrem Strick, aber sie stemmte sich dagegen.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.
Der Mann blinzelte überrascht. Sein Blick glitt zur offenen Tür, als erwarte er etwas. Er
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